Warum reden wir überhaupt über Zinsen?
Zinsen bestimmen, wie teuer oder günstig es ist, Geld zu leihen oder zu sparen. Sinkt der Zins stark oder wird sogar negativ, verändert sich, wie Menschen und Unternehmen mit Geld umgehen. Im Juni 2014 hatte die Europäische Zentralbank (EZB) erstmals einen Zinssatz unter 0% gesenkt. Diese “negativen Zinsen” erhob sie auf Übernacht-Einlagen der Geschäftsbanken. Die Banken mussten also für Einlagen bei der EZB zahlen. Die Zentralbanker wollten damit erreichen, dass die Geschäftsbanken Kredite an die Realwirtschaft vergeben, statt überschüssiges Geld bei der Zentralbank zu lagern. (2022 wurden die Zinsen bei der EZB wieder in den positive Bereich gehoben.) Manche sahen darin Parallelen zu den Ideen des Ökonomen Silvio Gesell, andere zu John Maynard Keynes.
Was sagten Gesell und Keynes dazu?
Zusammenfassung des Artikels von Prof. Dr. Dirk Löhr in einfacher Sprache:
Gesells und Keynes Grundgedanken
Gesell und Keynes waren sich einig:
- Wenn es genug Kapital gibt, sollte der Zins irgendwann fast auf Null fallen.
- Das würde den Faktor „Arbeit“ stärken, weil Unternehmen mehr investieren und mehr Leute einstellen.
- In einer idealen Welt bekämen die Arbeitnehmer dann einen größeren Anteil am gemeinsamen „Wirtschaftskuchen“.
Gesell nannte den immer vorhandenen Zins „Urzins“ – eine Art natürlicher Mindestzins. Er lag seiner Meinung nach bei 4–5 %, Keynes schätzte ihn auf 2–2,5 %.
Warum gibt es diesen Mindestzins? Beide hatten ähnliche Erklärungen:
Gesell meinte, Geld habe im Tausch einen Vorteil gegenüber Waren. Es verdirbt nicht und verliert nicht so schnell an Wert.
Keynes sprach von der „Liquiditätsprämie“ – dem Vorteil, jederzeit flexibel kaufen zu können, ohne hohe Lager- oder Haltungskosten zu haben.
Der Mindestzins müsste also eher “Liquditätsverzichtsprämie” heißen, denn sie belohnt Investoren bzw. Geldgeber dafür, dass sie auf Liquidität verzichten. Beide glaubten: Wenn man diesen Vorteil des Geldes schwächen könnte, würden Zinsen sinken, Kapital sich vermehren und Arbeit mehr Ertrag bringen.
Negativzinsen in der Realität und was die EZB tat:
Seit 2012 pumpte die EZB riesige Mengen Geld in den Markt („Druckbetankung“), um den Euro zu stabilisieren und Kredite zu verbilligen. 2014 setzte sie den Einlagenzins für Banken unter Null.
Folge: Banken mussten zahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB parkten.
Ziel: Mehr Kredite an Unternehmen, mehr Investitionen, mehr Jobs.
Teilweise funktionierte das:
- Die Zahl der Beschäftigten in Deutschland stieg von 2011 bis 2022 um etwa 12 %.
- Die Lohnquote (Anteil der Löhne am Volkseinkommen) legte leicht zu.
Aber: Vom „vollen Arbeitsertrag“ konnte keine Rede sein. Der Effekt war also schwächer als erhofft.
Warum die EZB-Politik Gesells Ideen nicht umsetzte:
- Nur kurzfristige Zinsen wurden negative.
Gesell meinte den landesüblichen Zins für lange Laufzeiten (z. B. 30 Jahre). Die EZB senkte vor allem den kurzfristigen Zins. Für langfristige Anlagen blieb der Zins oft positiv.
- Andere Kapitalarten unberührt
Gesell und Keynes wussten: Es geht nicht nur ums Geld, sondern auch um Boden und andere knappe Güter. Wenn man nur das Geld „billiger“ macht, setzen Bodenpreise und andere Vermögenswerte weiterhin die Renditehürde. Und diese ist oft hoch und in den letzten Jahren höher geworden.
Boden und Patente: Die versteckten Gewinner
- Boden ist wie eine exklusive Option: Man kann jederzeit bauen oder verkaufen – und oft steigt der Wert sogar, wenn man nichts tut.
- Patente wirken ähnlich: Wer ein Patent hat, kontrolliert ein Stück „virtuelles Land“ im Markt.
Beide haben hohe Renditen und können den Eigentümern leistungsloses Einkommen geben.
Folge: Selbst wenn Geld fast nichts mehr kostet, bleiben Investitionen knapp, weil Boden- und Patentbesitzer nur verkaufen oder nutzen, wenn sie hohe Gewinne sehen.
Wohin floss das viele Zentralbankgeld der EZB?
- Nicht in Maschinen, Fabriken oder neue Arbeitsplätze.
- Stattdessen in Aktien, Immobilien, Rohstoffe und andere knappe Werte.
Das trieb die Preise dieser Vermögenswerte hoch („Assetpreisinflation“).
Das Geld zirkulierte also weniger im Alltag und mehr in der „Finanzstratosphäre“. Das bremste die Geldumlaufgeschwindigkeit.
Was hätte helfen können: z.B. eine Bodenwertsteuer
Eine stärkere Besteuerung von Bodenwerten hätte den Vorteil des „Warten-Könnens“ auf z.B. unbebauten Grundstücken geschmälert.
Henry George, ein US-Reformer, schlug vor, Boden stärker zu besteuern und im Gegenzug Arbeit und Investitionen zu entlasten. In Deutschland ist die Grundsteuer aber eher niedrig (ca. 2 % der Steuereinnahmen; in den USA 12 %).
Blick in die Zukunft: Digitales Zentralbankgeld
Die EZB plant einen digitalen Euro, den nicht nur Banken, sondern alle nutzen können.
Chancen:
- Negativzinsen auch auf sind „Bargeld“ leichter umsetzbar.
- Bessere Steuerung der Geldmenge.
- Risiken: Mehr staatliche Kontrolle und Überwachung.
Fazit: Gesell war seiner Zeit voraus – seine Ideen wurden aber nie richtig umgestetzt.
Gesell hatte eine revolutionäre Sicht auf Geld und Wirtschaft. Keynes erkannte vieles davon an, kritisierte aber, dass Gesell Boden und andere Vermögensarten zu wenig beachtete. Gesell plädierte allerdings für eine Geld- und Bodenreform, weil er voraussah, dass bei negative Zinsen die Investoren in nicht vermehrbare Güter und reale Werte wie Rohstoffe investieren würden.
Die EZB hat nur einen kleinen Teil seiner Ideen umgesetzt – und deshalb blieben die großen Wirkungen aus.
Eine zukunftsfähige Reform müsste Geld-, Boden- und Eigentumsrechte gemeinsam anpacken, damit die menschliche Arbeit wirklich stärkeren Wert erhält.
Der gesamte Artikel von Prof. Dr. Dirk Löhr findet sich hier.