Die internationale Forschungsvereinigung RAMICS organisiert eigentlich alle zwei Jahre einen großen Forschungskongress zu Komplementärwährungen, den einzigen weltweit: Im September 2019 fand der Vorletzte in Hida-Takayama in Japan statt (wir berichteten). Nur wenige Monate später brachte die Covid-Pandemie nicht nur unseren Veranstaltungskalender zum Stillstand. Die folgende  Konferenz war  damals bereits für den September 2021 angesetzt, aber schon bald zeichnete sich ab, dass dies nicht ohne Einschränkungen möglich sein würde. Um nicht durch ein reines Online-Programm auf persönliche Treffen unter Kollegen verzichten zu müssen, fand diese Konferenz schließlich erst im vergangenen Monat, vom 27.-29. Oktober 2022, in der bulgarischen Hauptstadt Sofia statt. 

Rossitsa Toncheva von der dortigen “University for National and World Economics” und das bulgarischen “Monetary Research Center” hatten bereits am Ende der Konferenz in Japan die Ausrichtung der Folgeveranstaltung an diesen Instituten angeboten, weil die Idee komplementärer Währungen in Bulgarien noch kaum bekannt ist. Dadurch war von vornherein klar, dass die Kombination aus Forschungskonferenz und einem Treffen von Aktivisten und Initiativen, die sich bei den fünf vorangegangenen RAMICS Kongressen als höchst inspirierend erwiesen hatte, diesmal schwerlich umsetzbar sein würde.

Außerdem bevorzugten immer noch viele der Wissenschaftler, die ihre Arbeiten für Präsentationen während der Konferenz eingereicht hatten, nicht persönlich nach Bulgarien zu reisen, sondern das während der Pandemie weithin praktizierte Format der virtuellen Vorträge wahrzunehmen.

Insgesamt wurden 52 Forschungsarbeiten und Erfahrungsberichte vorgestellt. 30 davon durch Teilnehmer in Sofia, die nicht nur aus Europa, sondern auch aus Brasilien, den USA, Japan und anderen Ländern angereist waren. Zusammen mit Interessierten aus Bulgarien und Studenten der Universität selbst waren damit knapp über 40 Teilnehmer im Publikum, zumindest während der hochkarätigen Keynotes und der Eröffnungsveranstaltung. 

Für die Online-Präsentationen während der ersten zwei Tage waren insgesamt 85 Teilnehmer registriert, die sich auf jeweils 4 parallele Sessions verteilten. Denn anders als bei anderen “hybriden” Veranstaltungen der letzten Jahre, wurde hier strikt zwischen online und “on-site” Sessions/Panels unterschieden. Dies bot denjenigen, die den Aufwand und das Risiko der Anreise auf sich genommen hatten, mehr Möglichkeiten für den kostbaren Austausches mit den Vortragenden vor Ort, ohne dabei durch die praktischen technischen Schwierigkeiten eingeschränkt zu sein, die ein Austausch mit online-Teilnehmern immer noch mit sich bringt. 

Sofia präsentierte sich in schönstem Herbstkleid

Auch wenn es insgesamt weniger Präsentationen als bei den vergangenen Kongressen gab, boten diese inhaltlich einen akutellen, interessanten und vielfältigen Einblick in die unterschiedlichsten Aspekte der Komplementärwährungs-Forschung (ein Zusammenstellung der Abstracts aller Präsentationen kann hier heruntergeladen werden). Ebenso reichte diese Zahl an Berichten aus, um den Eindruck, dass gemeinschaftsbasierte Komplementärwährungen in letzten Jahren weniger öffentliches Interesse finden (was man im deutschsprachigen Raum durchaus beobachten kann), durch die Zahlen und Entwicklungen aus vielen anderen Ländern zu widerlegen. Um nur ein paar wenige zu nennen: in Frankreich gibt es mittlerweile 82 Initiativen, die den deutschen Regiogeldern ähnlich sind. In Brasilien erfahren derartige Währungen nach wie vor sowohl durch die nationale Sozialpolitik als auch durch Engagement seitens der kommunalen Regierungen Förderung. In den USA und Kanada entwickeln sich auch langjährige Projekte wie Berkshares und Calgary Dollar beständig weiter und, inspiriert von positiven Beispielen aus Ostafrika, betreibt sogar die GIZ (Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit) momentan Modellprojekte mit Komplementärwährungen in Kamerun. 

Eine deutliche Neuerung der vergangenen Jahren schien die größere Verfügbarkeit von Transaktionsdaten und damit korrelierbaren demographischen und soziologischen Erhebungen zu sein. Dies kann durchaus als positiver Effekt der fortschreitenden Digitalisierung und der anderweitig oftmals wenig nachvollziehbaren Begeisterung für digitale Währungen gewertet werden. Zwar verwenden die wenigsten Projekte Blockchain-Protokolle für ihre Transaktionen, aber auch Projekte mit zentralen Datenbanken generieren Daten, die anonymisiert der Wissenschaft zur Verfügung stehen und analysiert werden können. Bisher dominierte dabei noch die Visualisierung und konzeptionelle Modellierung dessen, was sich in Komplementärwährungs-Neztwerken abspielt. Aber Ideen, wie sich daraus Anhaltspunkte für besseres Währungs-Design und Anreize für Nutzer ableiten lassen, klangen bereits in mehreren Arbeiten an. Ebenso ließ sich eine größere Aufmerksamkeit gegenüber Wirksamkeitsstudien und den dazu nötigen Datenerhebung beobachten – ein weiterer Forschungsaspekt, der gegenüber früheren Konferenzen deutlich an Profil und Aufmerksamkeit gewonnen hat. Auch wenn die Wirkung von Komplementärwährungen angesichts großer Herausforderungen wie der Corona-Pandemie und des globalen Klimawandels noch vergleichsweise klein und lokal begrenzt ist, zeichnet sich damit zumindest eine Reifung dieser Art der Geldreform-Bewegung ab, die auf zukünftige Entwicklungen hoffen läßt. 

 

Eröffnungsveranstaltung und Keynote Prof. Nikolay Nenovsky

Wie lang solche ideengeschichtlichen Entwicklungsprozesse brauchen, ließ sich auch an der Auswahl an Keynote-Vorträgen ablesen. Zum einen gab der bulgarische Ökonom und Zentralbanker Prof. Nikolay Nenovsky eine Überblick über die Geschichte der Finanz-Landschaft des Gastgeberlandes und des restlichen Balkans – einer Region in der Fragen von Euro-Beitritt und internationaler Verflechtung noch weitaus lebensnäher scheinen, als solche nach komplementären Währungen. Tatsächlich gibt es momentan in Bulgarien nur eine komplementäre Währungs-Initiative, die ihre Ideen und ersten Aktivitäten am dritten Tag der Konferenz vorstellte. 

Den zweiten Plenumsvortrag hielt Thomas Greco aus den USA, eingeladen wegen seines unermüdliches Engagement für “mutual credit” Systeme, und für viele ein Grundpfeiler des modernen KW-Gedankengutes. Bruno Theret als dritter Redner stellte wiederum einen detaillierten Vergleich zwischen den Wert-Theorien von Pierre-Joseph Proudhons (1809-1865) und John R. Commons (1862-1954) dar, die im 19. Und 20. Jahrhundert maßgeblich zu den Ideen genossenschaftlicher Finanz-Praktiken beigetragen haben und somit ebenfalls als Ahnen der modernen Geldreformbewegung gelten, wenn auch mit anderen Werkzeugen. Susanna Belmonte wiederum gab im letzten Plenumsvortrag mit aktuellen Beispielen aus Spanien und verschiedenen EU-Programmen zum Ausdruck wie komplementäre Wirtschafts- und Geldformen als Keimzellen für Lösungen von größeren gesellschaftlichen Fragestellungen dienen können. 

Dazu passte auch, dass mehrere Forschungsvorträge die Verbindung von komplementären Währungen als Träger und Beförderer eines bedingungslosen oder universellen Grundeinkommens sein können. Auch wenn die Datenlage in diesem Feld noch immer sehr gering – und ihre Interpretation teilweise fragwürdig ist – so zeigt dies zumindest, wie große Herausforderungen und kleinräumige experimentelle Herangehensweisen sich gegenseitig befruchten können. 

Verkaufstand der einzigen kompl. Währung Bulgariens auf einem Sonntagsmarkt in der Stadt

Das Integrieren von einzelnen Fallbeispielen und großen theoretischen Entwürfen war ein weiterer Forschungsstrang, der verschiedene Vorträge verband. So beschäftigten sich zum Beispiel die drei anwesenden Mitglieder des monneta-Expertennetzwerkes, Christian Gelleri, Jens Martignoni und Leander Bindewald, die Teilaspekte ihrer Dissertationen vortrugen, mit dem Zusammenspiel der Praxis komplementärer Währungen und ökonomischer Geldtheorie und wie beide durch einen jeweiligen Perspektivwechsel robuster gestaltet werden können. 

Jens Martignoni wurde außerdem in der RAMICS Mitgliederversammlung am letzten Tag der Konferenz ins Management Komitee von der Forschungsvereinigung gewählt und wird zusätzlich Georgina Gomez nach vielen verdienstvollen Jahren als Chefredakteurin des International Journals of Community Currency Research (IJCCR) ablösen. Wir gratulieren zu beiden Positionen und wünschen alles Gute!

Schließlich wurde die Organisation und Qualität des Zusammenspiels von lokalen und online Teilnehmern von vielen Teilnehmern während und nach der Konferenz gelobt. Und gerade falls die nächste Konferenz in zwei Jahren wieder außerhalb Europas stattfinden sollte (der nächste Veranstaltungsort ist bisher noch nicht beschlossen), kann die Option, Beiträge online vorzutragen, ein inklusiveres Angebot für diejenigen schaffen, die sich eine Reise nicht leisten können oder wollen. Aber gerade nach den vergangenen Jahren der Virtualität hoffen wir, dass bald wieder mehr und mehr der Wert des persönlichen Austausches in den Vordergrund rückt. Auch dafür steht monneta als Netzwerk-Organisation gerade für die Kompetenzträger im deutschsprachigen Raum, und dieses Anliegen bewegte uns auch als Mitorganisatoren des Kongresses in Bulgarien und als einziges institutionelles Mitglied von RAMICS. 

In diesem Sinne hoffen wir, viele unserer Kollegen, Freunde und Leser bald wieder persönlich zu treffen, beim RAMICS Kongress 2024, und vorher bei anderen Veranstaltung von und mit monneta. Mehr dazu in den kommenden Newslettern.