Wir haben sie miterlebt diese erstaunliche Zeitenwende. Plötzlich bewirkt ein Virus, dass Gesundheit sogar auf den Regierungsebenen wichtiger wird als die Wirtschaft. Plötzlich haben wir Zeit und sind allein in unseren vier Wänden mit der Frage: Was will ich mit meiner Zeit anstellen? Wie möchte ich sie am liebsten verbringen? Wenn die wirtschaftliche Unsicherheit nicht wäre, dann hätte das etwas Befreiendes. Ich kann über meine Zeit bestimmen. Keine Fahrten zur Arbeit im Berufsverkehr. Kein Zeitdruck durch den Terminkalender. Keine Anpassung an Arbeitsplatzkonventionen. Statt dessen wird der Freundeskreis und die Nachbarschaft wichtiger – wenn auch eingeschränkt durch die Distanz-Regeln. Wer kann Haare schneiden, wenn der Friseur zu hat? Wer pflegt die Kranken zuhause, wenn die Krankenhäuser überlastet sind und Besuche riskant? Wer hilft den älteren Menschen mit Einkäufen?
Die Coronakrise hat uns gelehrt, wie wichtig die Pflege als Grundlage unserer Gesellschaft ist. In Familien ist das meist so selbstverständlich, dass die Sorge für Kinder und deren Erziehung kaum als Arbeit angesehen wird. Eltern schenken ihren Kindern viel Zeit – ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das kann man auch Schenk-Ökonomie nennen. In jedem Fall ist es eine Basis unserer Gesellschaft, die Anerkennung verdient, denn ohne diese geschenkte Zeit würde es keine Menschen geben, die wirtschaften. Statt dessen gehören die Eltern, die während des Corona-Shutdowns zu Hause gearbeitet haben, zu den am meisten Benachteiligten, denn sie waren mit der Kinderbetreuung „nebenbei“ allein und selbstverständlich überfordert. Ihre Erfahrungen zeigen: „Home Office“ und „Home Schooling“ gehen nicht gleichzeitig. Wieviel Glück hatten diejenigen, die Großeltern um Hilfe bitten konnten, die einen Garten haben. Wenn sogar die Kinderspielplätze geschlossen werden, dann verstärkt das die soziale Ungleichheit.
Die Coroanakrise hat uns unter anderem so hart getroffen, weil die Pflege im Gesundheitswesen viel zu schlecht bezahlt wird. Und weil sich die Arbeitsbedingungen unter dem Diktat der „Wirtschaftlichkeit“ durch Sparmaßnahmen jahrzehntelang verschlechtert haben. Die Pflege braucht in allen Beziehungen mehr Wertschätzung und bessere Bedingungen – für Kinder, Ältere und Kranke – also für uns alle.
Eine gute Möglichkeit den Austausch in Städten, Gemeinden und der Nachbarschaft zu verbessern bieten sogenannte Zeit-Tausch-Systeme. Bei ihnen wird auf Basis ehrenamtlicher Arbeitsstunden getauscht. Eine Stunde von mir ist gleich eine Stunde von dir. Jeder kann ehrenamtliche Arbeitsstunden geben und wir alle brauchen Menschen, die uns helfen – nicht nur im Krankheitsfall. In Zeit-Tausch-Systemen können ehrenamtliche Arbeiten wie Hausaufgabenhilfe, Kranken- und Altenpflege, Fahrdienste, Reparaturleistungen, Kochen und Kinderbetreuung sichtbar gemacht und belohnt werden – völlig unabhängig von der monetarisierten Wirtschaft. Und der zunehmende Austausch von Zeitgutscheinen zeigt, dass die Gemeinschaft genauso wächst wie das Vertrauen unter den Menschen. Letztendlich geht es den Teilnehmern um ein besseres Miteinander.
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Selbstverständlich hätte ich die vielen Hundert ehrenamtlichen Arbeitsstunden an den Schulen meiner Kinder sowieso geleistet. Aber die Möglichkeit einer Extra-Anerkennung durch Gutschriften auf einem Zeitsparkonto wäre ein noch größerer Gewinn, wenn ich sie später, wenn ich alt bin, einlösen könnte gegen Hilfe z. B. beim Einkaufen oder bei Arztbesuchen. Und es würde leichter fallen um Hilfe zu bitten, denn ich habe sie „verdient“.
Wer glaubt, die Coronakrise war die letzte Krise? Wahrscheinlich stehen wir erst am Anfang einer längeren Wirtschaftskrise, die uns noch viele Abstürze bescheren wird. Die Coronakrise sollte uns bewusst machen, dass nicht Euro, Gold und Bitcoins das Wichtigste sind, sondern Freunde, Familie und ein starkes Netzwerk.
Beim Zeit-Tausch geht es nicht um die Ökonomisierung des Ehrenamtes oder darum unsere kostbare Zeit auch noch zu verrechnen. Nein, es geht um einen besseren Austausch, um persönliche Beziehungen und gemeinsam besser für die Mitmenschen zu sorgen. Denn beim Zeit-Wohlstand geht es um Qualität – nicht um Quantität und nicht um finanzielles Wachstum. Ein Gewinn für alle – ohne jegliche Rendite.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt um solche Tausch-Systeme zu starten, um staatliche Programme zu fordern und den entsprechenden Datenschutz. Denn das fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Gemeinschaftsbildung, die in Corona-Zeiten mit den Auflagen von sozialer Distanz und Kontaktbeschränkungen nur schwer zu erreichen sind. Tauschsysteme können das große Potential der Hilfs- und Kooperationsbereitschaft in der Bevölkerung verstetigen, unterstützen und für die Zukunft ausbauen. Für mehr Mitmenschlichkeit. Zeit wird mehr wert, wenn man sie teilt. Und Zeit-Tausch-Systeme zeigen uns, dass die Zeit eigentlich viel wichtiger ist als das Geld. Nutzen wir unsere Zeit also gemeinsam besser!
Mehr Informationen über Zeit-Tausch-Systeme und Anwendungsbeispiele auf unserer Webseite:
Vertiefungsartikel zu Tauschringen und Zeitbanken (Teil unserer Onlinekurse).
Monneta-Experte Tobias Plettenbacher hat das Zeit-Tausch-System „WIR GEMEINSAM“ entwickelt. Neue Gruppen sind herzlich willkommen!
Informationen zu einen System in Deutschland finden sich zum Beispiel auf der Webseite der Zeitbörse Königsbrunn.
Artikel zum Thema Timebanking auf unserer englischen Webseite (CCIA 2015).