(Dieser Artikel ist dem Vorwort des Buches „Mikroökonomische Lehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?“ von unserem Netzwerkexperten Prof. Dr. Dr. Helge Peukert entnommen und kann hier als PDF-Datei heruntergeladen werden.)

Diese Studie mikroökonomischer Lehrbücher verdankt sich einem biographischen Zufall. Zum Zeitpunkt meines Wechsels von der staatswissenschaftlichen Fakultät in Erfurt an die Universität Siegen zur Mitgestaltung des neuen Masterstudiengangs Plurale Ökonomik vergab das Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) aus Düsseldorf ein zweijähriges Forschungsprojekt an die Ökonomen des Masterstudiengangs. Da der Forschungsauftrag, eine Analyse der vorherrschenden Mikro- und Makroökonomielehrbücher die Initiatoren des Studiengangs interessierte, übernahmen wir die praktische Durchführung. Schließlich gehören die Mikro- und die Makroökonomie (nicht nur) in Deutschland zum Kernkanon der Einführungsveranstaltungen und nicht zuletzt die Kritik an diesen Veranstaltungen führte zur Einrichtung des alternativen Masterstudiengangs.

Ein Mitarbeiter, Christian Rebhan, hatte bereits in Erfurt eine empirische Magisterarbeit verfasst, in der er erhob, welche Lehrbücher an deutschen Universitäten in Bachelorveranstaltungen zum Einsatz kommen. Zu unserer Überraschung dominieren in der mikroökonomischen Lehre fast vollständig die zwei Lehrbücher von Hal Varian und von Robert Pindyck und Daniel Rubinfeld (Rebhan, 85, die englischen und deutschen Versionen der beiden Lehrbücher unterscheiden sich höchstens in geringfügigen Details).

Eher aus Neugier warf ich gelegentlich einen Blick in die dicken Wälzer, die nach und nach im Zuge der Anlage einer kleinen Bibliothek mit den vorherrschenden, aber auch mit pluralen, heterodoxen und alternativen Beiträgen eintrafen. Rund vier Jahrzehnte hatte ich in kein Mikrolehrbuch mehr genauer hineingeschaut. In Erinnerung behielt ich von der damaligen Lektüre, dass die Mikroökonomie zwar einseitig neoklassisch ausgerichtet war, aber trotz ihrer zu kritisierenden Einseitigkeiten doch auch für sehr viele Fragestellungen hilfreiche Werkzeuge an die Hand gibt.

Auf den ersten Blick schien es bei den in der Zwischenzeit quantitativ deutlich angeschwollenen Einführungen zudem so, dass sie auch dank vieler Beispiele viel anschaulicher und lebendiger geworden sind. Waren diese Veränderungen in den letzten Jahrzehnten etwa Ausdruck einer positiven Weiterentwicklung? Recht schnell fielen aber z.B. die einseitige Auswahl der Beispiele, der marktaffine Standpunkt und die normativen Stellungnahmen der Verfasser auf, was keinen guten zweiten Eindruck hinterließ und den Verfasser im zehnten Jahr nach Ausbruch der Finanzkrise einmal mehr daran erinnerte, dass den Wirtschaftswissenschaften ein beträchtliches Maß an Verantwortung für ihren Ausbruch und danach für unterbliebene Reformen des Geld- und Finanzsystems zukommt.

Da auch heterodoxe Lehrbücher und explizite Kritiken des Mainstreams für unsere kleine Bibliothek im Verlauf des Forschungsprojektes eintrafen, schaute man natürlich auch in sie gelegentlich hinein. Irgendwie war es dann so weit: Ich hatte Feuer gefangen und wollte nun genauer wissen, wie es um die Mikrolehrbücher und ihre Kritik steht. Hieraus ergab sich eine vorher so nicht geplante Arbeitsteilung: Elsa Egerer untersucht im Rahmen des Forschungsprojekts und ihrer Dissertation die Teile der Makrolehrbücher, in denen es um Geld- und Finanzmärkte geht, Christian Rebhan wesentliche sonstige Schwerpunkte der Makrolehrbücher und ich entschied mich für die Mikroökonomie. Das Ergebnis liegt hier vor, die Beiträge von Egerer und Rebhan werden als Dissertationen folgen. Eine kondensierte Fassung unserer „Trilogie“ wird Ende 2018 auf der Website der FGW einsehbar sein.

Der Verfasser dieser Studie erhebt keinesfalls den Anspruch, Experte auf dem Gebiet der Mikroökonomie zu sein. Insofern dürften sich eine ganze Reihe von Aussagen und Behauptungen im Text finden, über die sich trefflich streiten lässt. Ich habe die Studie vorab nicht der Kritik der wenigen heterodoxen oder orthodoxen Fachleute ausgesetzt, da dies sicher einiger Zeit bedurft hätte und die analysierten Auflagen der Lehrbücher dann schon durch neue überholt worden wären. Auch erschien es mir eine Zumutung, von Kollegen zu erwarten, den Text im Detail durchzusehen. Ich bitte alle Leser, mir Fehler, Unklarheiten und sonstige Anregungen zuzusenden, um den Text in einer Zweitauflage zu verbessern und mich zu Diskussionen zwecks kritischem Gedankenaustausch einzuladen.

Das Wagnis, mit diesem Text als Nichtexperte an die Öffentlichkeit zu treten, ist auch ein Versuch, expertokratische Überspezialisierung zu überwinden, der gemäß sich nur Personen zu wissenschaftlichen Themen äußern sollten, die sich mit Haut und Haar, am besten über Jahrzehnte, einem Spezialthema gewidmet haben. Die heutigen Selbstbeschränkungen führen m.E. zur Verödung der Wissenschaftslandschaft. Über die Jahrzehnte war es für mich bedrückend zu beobachten, wie man wissbegierige und gestaltungsfreudige junge Menschen durch realitätsferne und oft ausgesprochen langweilige Einführungen in die curricularen ökonomischen Kernfächer demotivierte. Dabei ist das reale Wirtschaftsleben bunt und spannend und es bedarf v.a. angesichts der Bedrohung der Biosphäre und zahlreicher anderer Herausforderungen junger, kompetenter Intellektueller mit klarem Kompass, die sich nicht, wie die meisten der heute im Wissenschaftsbereich übrig Bleibenden, als Wissenschaftsfunktionäre und Sachverwaltergehilfen des Politestablishments verstehen.

In Anlehnung an das Popper’sche Forschungsleitbild werden in der folgenden Analyse mutig Kritiken, Thesen und Deutungen geäußert, die gerne „falsifiziert“ werden können. Ermuntert wurde ich für dieses Vorhaben durch die Kritik der pluralen Studierendengruppen des Netzwerks Plurale Ökonomik, das ich vor mehreren Jahrzehnten, damals unter der Fahne der Postautistischen Bewegung, mitgründete. Auch gab es Anfragen, ob es denn kritische Begleittexte zu den einseitigen Lehrbüchern gebe.

Zu meiner Studienzeit in Frankfurt am Main war die Lehre in den Kernfächern noch plural: In Mikroökonomie lernte man, wen man Glück hatte, sogar den Ansatz Sraffas kennen und als kritische Begleitung für die Tutorien wurden fast immer Bücher von Emery Hunt und Howard Sherman, John Eatwell und Joan Robinson, Maurice Dobb u.a. einbezogen. Demgegenüber wird heute, wie plurale Studierende immer wieder berichten, trotz aller möglichen Weiterentwicklungen (nicht nur) in der Mikroökonomie meist nur durch den Standardkanon mit gelegentlichen, kurzen Seitenblicken durchgesaust. In fortgeschrittenen Lehrveranstaltungen an früheren Wirkungsstätten war für mich unverkennbar, dass bei solch einseitigen, schnellen Parforceritten bei den meisten Studierenden auch dank der Umstellung auf das Bachelorsystem mit semesterbegleitenden Klausuren häufig nicht gerade viel hängen blieb und das Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge doch sehr zu wünschen übrig ließ ‒ ganz abgesehen vom heimlichen Lehrplan der Vermittlung einer bestimmten, oft marktliberal-konservativen Sicht der Dinge (z.B. alle möglichen Nettowohlfahrtsverluste bei „Eingriffen“ in Marktprozesse). Dieser heimliche Lehrplan empörte den Verfasser dieser Studie bei der folgenden Untersuchung des Öfteren, was sich hin und wieder in leicht ironischen Bemerkungen niederschlagen dürfte.

Bei den Nachforschungen zum internationalen Stand der heterodoxen Literatur für unsere (Alternativ-)Bibliothek stellten wir freudig fest, dass es neben wenigen deutschsprachigen Beiträgen zumindest im angelsächsischen Bereich eine ganze Reihe sehr niveauvoller Kritiken und Lehrbuchalternativen gibt, die leider in Deutschland so gut wie unbekannt sind und in Lehrveranstaltungen nach unserer Erhebung überhaupt keine Rolle spielen. Für fast alle Veranstaltungen gelten heute, wie erwähnt, Varian sowie Pindyck und Rubinfeld als Primärquellen. Insgesamt werden rund zwei Dutzend Mikrolehrbücher in deutscher Sprache angeboten, die aber kaum von den hier analysierten abweichen.

Um bei der Analyse der Lehrbücher nicht mit der Tür ins Haus zu fallen und ohne jegliche Struktur in die Texte einzutauchen, wurde zunächst, vor der genaueren Analyse der Lehrbücher, ein analytischer Rahmen entwickelt, der zur Unterscheidung eines mehr und eines weniger raffinierten Mainstreams (I und II, mit der Neoklassik als weiterer Untergliederung) und der Heterodoxie führte (Kapitel 1). Grundlage hierbei war die allgemeine Kenntnis der Diskurslandschaft, aber auch z.B. wissenschaftstheoretische Beiträge zu den Wirtschaftswissenschaften. Ich danke Elsa Egerer für konstruktive Verbesserungsvorschläge und Diskussionen zu diesem Rahmen, der natürlich Widerspruch hervorrufen dürfte, da er auf der These beruht, dass es trotz aller Ausdifferenzierungen nach wie vor einen identifizierbaren Mainstream, einschließlich bestimmter wirtschaftspolitischer Vorurteile gibt. Auch die These eines in weiten Teilen markierbaren heterodoxen Kanons dürfte Zweifler finden. Und natürlich ließen sich viele weitere Unterschiede hinzufügen oder abziehen, da die Zusammenstellungen nicht (sach)logisch geschlossen sind.

Dennoch: Auch um die Ergebnisse der verschiedenen Lehrbuchanalysen zur Mikro- und Makroökonomie vergleichbar zu machen und um eine gewisse Struktur in das allgemeine Vorgehen zu bringen, scheint uns dieser Katalog doch ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein, der auch bestimmte Vorannahmen der drei Studien zum Zustand der Wirtschaftswissenschaften verdeutlicht.

Die Bedeutung dieses analytischen Rahmens wurde allerdings zu Beginn überschätzt. Zwar dient er als Hintergrundfolie, aber die Untersuchung der einzelnen Kapitel und Themen gewann doch auch dank der v.a. angelsächsischen kritischen Sekundärliteratur eine konstruktive Eigendynamik, die weit über das Abprüfen des Kriterienkatalogs hinausging. Kapitel 2 und 3 thematisieren neben kurzen Ausführungen zu den gewinnorientierten Verwertungsbedingungen des amerikanischen Lehrbuchmarktes markante Aussagen und Annahmen der einzelnen Kapitel der beiden Lehrbücher. In Kapitel 4 wird ein ‒ leider sehr skeptisches ‒ Fazit gezogen und die Ergebnisse werden kurz in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt. Kapitel 5 diskutiert einige alternative Lehrbücher und Texte, die sich für eine bessere Lehre, nicht zuletzt für den pluralen Masterstudiengang in Siegen, anbieten. Kritikpunkte an einzelnen, in den Lehrbüchern gemeinsam anzutreffenden Bausteinen werden meist nicht doppelt vorgetragen, sondern nur anhand des einen oder des anderen Lehrbuchs ausgeführt.

Auf naheliegende dogmenhistorische Bezüge wurde bewusst weitestgehend verzichtet. Der Text fordert dem willigen Leser dennoch einiges an Aufwand ab, da er sich nicht auf eine leicht zu überfliegende, kondensierte und am besten in wenigen Zahlen komprimierte Zusammenfassung der Durchsicht beschränkt, sondern der Verfasser sich die Mühe macht, auch im Detail Inhalt und Marschrichtung der Lehrbücher nachzuverfolgen, es also nicht bei einer verallgemeinernden Pauschalkritik belässt. Dies ist auch nötig, um in der aktuellen Diskussion zur Frage Stellung nehmen zu können, ob v.a. das Netzwerk Plurale Ökonomik (www.plurale-oekonomik.de) mit seiner Kritik an der Lehre an deutschen Hochschulen recht hat oder ob diese Kritik auf „Unkenntnis“, „Ignoranz“, „Unwissenheit“ und „schwindender Bereitschaft zum Dialog“ beruht ‒ Vorwürfe, die von Besserwissern des Mainstreams in letzter Zeit verstärkt gegen das Netzwerk vorgebracht werden.

Das empirische und hermeneutische Ergebnis dieser Studie lautet: Die Lehrveranstaltungen zugrunde liegenden Mikrolehrbücher, für die es einige Alternativen gäbe (siehe Kapitel 5), sind in mehrerlei Hinsicht völlig einseitig, die Kritik der Studierenden und heterodoxer Ökonomen trifft zumindest diesbezüglich ohne jeglichen Zweifel zu!

Gelegentlich hört man von Lehrenden den Einwand, in der tatsächlichen mikroökonomischen Lehre gehe es doch viel pluraler zu als in den angegebenen Lehrbüchern. Dem stehen viele Berichte von Studierenden in Deutschland gegenüber, die hiervon nichts bemerkten. Da die Syllabi und Powerpoints der Lehrveranstaltungen nicht öffentlich zugänglich sind (warum eigentlich nicht?), lässt sich dies leider nicht genau überprüfen. Eine ganze Reihe von Untersuchungen zu Modulbeschreibungen, Klausurfragen, Powerpoints usw. legen aber ziemlich eindeutig nahe, dass der Inhalt der Lehrveranstaltungen zumeist kaum von den Inhalten der Lehrbücher abweicht.

Als letztliche Motivation steht hinter dieser Studie ein wirtschaftsethisches Anliegen: Demokratische Entscheidungsstrukturen, sozialer Zusammenhalt auch durch Vermeidung zu großer sozialer Ungleichheit, die Förderung und der Erhalt kultureller Diversität und die ökologische Bewahrung der Biosphäre liegen mir neben einer effizienten materiellen Güterversorgung (die im ‒ auch normativen ‒ Zielkatalog des Mainstreams unangefochten an erster Stelle steht) am Herzen. Angesichts der immer deutlicher und sichtbarer hervortretenden Bedrohung unserer Umwelt, der auch hiermit zusammenhängenden Frage einer evtl. zu weit vorangetriebenen (Hyper-)Globalisierung und internationaler Arbeitsteilung sowie sich häufender Finanzkrisen bedarf es einer Weitung auch des mikroökonomischen Fragen-, Modell- und Reflexionshorizonts. Nationale Regierungen und die EU befinden sich mangels Engagement und dank WTO und Binnenmarktfreiheiten oft nicht mehr auf Augenhöhe mit multinationalen Unternehmen und privatwirtschaftlichen Interessengruppen, und im Verbund mit verstärkten Migrations- und Fluchtbewegungen schmelzen nicht nur in Europa die bürgerlichen Parteien der Mitte dahin, die bis dato womöglich den Rezepten des Mainstreams zu bereitwillig folgten (Ableitung der europäischen Binnenmarktfreiheiten aus Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile).

Wenn eine weitere erhebliche Steigerung des BIP in den Metropolen aus ökologischen Gründen nicht zu vertreten ist und uns auch nicht unbedingt zufriedener und glücklicher macht, richtet sich natürlich der Blick auf die Verteilung des Kuchens und als Ausgleich könnte eine höhere Zufriedenheit am Arbeitsplatz z.B. durch Partizipation angestrebt werden. Auf dem Weg in eine Ökonomie, die nicht zwangsläufig immer weiter wachsen muss, sind wahrscheinlich auch weitere Arbeitszeitverkürzungen unumgänglich. Für diese Herausforderungen reichen der mikroökonomische Mainstream und die Neoklassik nicht aus, da z.B. zumindest die elementare Neoklassik (der Lehrbücher) Verteilungsfragen vom Ansatz her eher agnostisch gegenübersteht und die Lehrbücher trotz IT-Revolution und angesichts völlig neuer Produktions- und Konsumformen (Netzwerkexternalitäten und Konsumenten als Datenproduzenten) inhaltlich und konzeptionell nach wie vor an der klassischen Industriegesellschaft ausgerichtet sind, obwohl Varian auch Chefökonom von Google ist.

Nach Meinung des Verfassers dieser Studie hat die, etwas polemisch formuliert, misanthropische Sichtweise v.a. des Menschenbildes des Mainstreams eine gewisse Berechtigung als nüchternes Fundament mikroökonomischer Analysen. Sie muss aber angesichts der aktuellen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen durch Ansätze der Heterodoxie und sie tragender Denkschulen ergänzt werden. Der Mainstream wird hier also keineswegs rundheraus abgelehnt, sondern er kann durchaus als Ausgangspunkt dienen, sollte aber in Einführungsveranstaltungen keine monokulturelle Einbahnstraße sein.