Denke ich über die Ursachen der Finanzkrise nach, so fallen mir zwei
Metaphern ein, die beide mit Elefanten zu tun haben:
“There is an elephant in the room” sagen die Engländer und meinen damit,
dass es eine offensichtliche Wahrheit gibt, die jeder kennt und die aber
keiner diskutieren will.

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An diese Metapher denke ich oft, wenn ich Talkshows zuhöre. Der Elefant ist
entweder zu gefährlich und deshalb möchte ihm niemand zu nahe kommen
und beim Namen nennen oder einige Teilnehmer nehmen ihn tatsächlich gar
nicht wahr.
Ein besonders schönes Beispiel erlebte ich in einer Diskussionsrunde bei
Markus Lanz1 : Dirk Müller beschrieb kurz und klar die systemischen
Ursachen der Finanzkrise (durch den Zinseszinseffekt erzwungenes
exponentielles Wachstum) – ein Elefant, der gerne ignoriert wird. Den
beiden anderen Teilnehmern ist die dramatische Dimension des von Dirk
Müller beschriebenen Scenarios überhaupt nicht bewusst geworden – die
Diskussion ging mit anderen Themen weiter, als ob nichts gewesen wäre.
Ein anderes Beispiel ist die Ignoranz der Ökonomen: „Die Disziplin ist hierzulande
immer noch paradigmatisch verkapselt und huldigt der Ökonomisierung
des Denkens und der Welt“ sagt Wirtschaftsethiker Thielemann –
und initiierte einen Aufruf „Für eine Erneuerung der Ökonomie“. 93 Professorinnen
und Professoren schlossen sich dem Memorandum an – nicht nur
aus den Wirtschaftswissenschaften. 2
Der zweite Elefant entstammt einer Sufi-Geschichte:
Im Gleichnis „ Die blinden Männer und der Elefant“ untersucht eine Gruppe
von Blinden – oder von Männern in völliger Dunkelheit – einen Elefanten,
um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht
einen anderen Körperteil (aber jeder nur einen Teil), wie zum Beispiel die
Flanke oder einen Stoßzahn. Dann vergleichen sie ihre Erfahrungen untereinander
und stellen fest, dass jede individuelle Erfahrung zu ihrer eigenen,
vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerungen führt.3
Das ist eine treffende Beschreibung dessen, was wir oft bei Diskussionen
zum Thema Finanzkrise erleben; die Zusammenhänge werden nicht erkannt.

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Der amerikanische Sozialpsychologe Donald N. Michael verwendet diese
Metapher in einem Essay und meint, nachdem er die Geschichte erzählt hat:
„Der Erzähler ist auch blind. Es gibt keinen Elefanten. Der Geschichtenerzähler
weiß nicht worüber er redet“.
Und Michael fährt fort: „Was heute mit der Menschheit passiert ist zu
komplex, zu vernetzt und zu dynamisch, um verstanden zu werden“. Er
beschreibt zunächst einige Gründe („contributors“), die zu dieser Unmöglichkeit,
die Welt zu begreifen, führen. Anschließend schlägt er eine Reihe
von Kompetenzen vor, die uns helfen, verantwortlich in einer Welt zu
agieren, die wir nicht verstehen.4
Wenn die Finanzkrise der Elefant ist: Warum ist es so schwierig, sie zu
begreifen. Warum wird die Krise so unterschiedlich interpretiert? Und welche
Kompetenzen helfen uns, in einer komplexen Situation, die wir nicht ausreichend
verstehen, verantwortlich zu handeln?
Hier sind, aufbauend auf den Ausführungen von Don Michael, ein paar
Überlegungen, die uns in unseren Diskussionen weiter helfen können.
Da sind zunächst die Informationsdefizite. Wir haben paradoxerweise gleichzeitig
zu viele und zu wenig Informationen. Einerseits können Sie Tage und
Wochen damit zubringen, Daten, Informationen und Meinungen zu sammeln
– aus Büchern, aus Videos, Vorträgen, Blogs – die Möglichkeiten sind endlos
und schon rein zeitlich nicht zu schaffen. Wie funktionieren die Märkte? Was
ist Ursache, was Wirkung? Was ist gesichertes Wissen, was nur Meinung
oder Vermutung?
Andererseits fehlen Informationen: Was wird hinter verschlossenen Türen
diskutiert und entschieden? Sind wir ausreichend ausgebildet, um bestimmte
Aspekte zu verstehen? Oder vielleicht „Fachidioten“, die zwar den
eigenen Beritt beherrschen, z.B. die Volkswirtschaft, aber wenig Ahnung
haben von anderen Fachgebieten, die zum Verständnis der Zusammenhänge
unerlässlich sind – z.B. Soziologie und Psychologie?
Daraus ergibt sich sofort das zweite Dilemma: Die gesprochene und geschriebene
Sprache. Selbst wenn wir die wichtigste Fremdsprache, Englisch,
gut beherrschen – wie steht es mit den Fachausdrücken? Wenn von
„quantitative easing“ gesprochen wird – verstehen Sie, dass damit das
Anwerfen der Gelddruckmaschine gemeint ist?
Vor ein paar Jahren habe ich (als Laie!) staunend einer langen Diskussion
zwischen Währungsfachleuten zugehört: Es ging um die Frage, was unter
dem Begriff „Geld“ zu verstehen sei. Dabei wurde nicht gestritten – es
schien nur nicht klar zu sein, was alle fünf Experten meinten, wenn sie von
Geld sprachen.
John Maynard Keynes hat es auf den Punkt gebracht:“I know of only three
people who really understand money. A professor at another university. One
of my students. And a rather junior clerk at the Bank of England.“
Natürlich sind auch Übersetzungen mit Vorsicht zu genießen. Hier ist ein
Beispiel:
Was ist eine Billion, auf Englisch? So findet sich‘s im Internet:
1. (British) A number equivalent to 1 000 000 000 000.
2. (Chiefly American) A number equivalent to 1 000 000 000.
Was wohl die Australier sagen?
Der nächste Stolperstein ist der Unterschied der Werte und vor allem ihrer
Prioritäten. Wir betrachten die Welt durch viele sehr effiziente Filter, die wir
durch unsere Sozialisierung aufgebaut haben.
Heißen Sie Josef Ackermann oder Georg Schramm? Zwischen den Werten
dieser beiden Protagonisten liegen sicher unüberbrückbare Welten. Sind Sie
erfolgreicher Investor oder Hartz-IV-Empfänger? Auch dann sehen Sie die
Welt vermutlich durch Filter, die wenig gemeinsam haben.
Gehören Sie zu den wenigen Menschen, die vom augenblicklichen
Währungssystem profitieren oder zu denen die den Preis dafür zahlen? Ich
treffe oft Menschen, die es für ihr gutes Recht halten, durch cleveres
Investieren reich zu werden. Wenige denken darüber nach, wo im Endeffekt
ihr „Ertrag“ herkommt – und wehren sich oft weiter darüber zu diskutieren,
wenn man ihnen die Konsequenzen ihrer Einstellung aufzeigt. „Leistung aus
Leidenschaft“ – welche Wertehaltung steckt dahinter, wenn damit ein
„return on investment“ begründet wird, der jenseits aller durch Arbeit
erzielbaren Einkünfte liegt?
Selbst wenn wir in einer Gemeinschaft dieselbe Werte teilen: Wer
entscheidet über die Rangfolge? „Freiheit“ oder „Gleichheit“, „Wachstum“
oder „Nachhaltigkeit“, kurzfristige oder langfristige Erfolge? Meine Familie
oder die Gemeinschaft der Bürger in der EU – um mal zwei Extreme zu
nennen?
Informationsdefizit, Sprachschwierigkeiten und unterschiedliche Werte: Wie
können wir je hoffen, die Welt um uns herum zu verstehen? Und welche
Kompetenzen und Einstellungen können uns helfen, trotz dieses Dilemmas
verantwortungsvoll zu handeln?
Denn handeln müssen wir, wenn wir nicht in Apathie und Hoffnungslosigkeit
versinken wollen!
Hier sind ein paar Vorschläge, wiederum angelehnt an Don Michaels Essay
und mit vielen Zitaten – Denker und Dichter haben oft Formulierungen
gefunden, die meine Gedanken gut „auf den Punkt“ bringen:
Jeder Mensch ist einmalig und damit unterscheidet er sich von allen
anderen. Auf der Suche nach dem Sinn kommen wir zu unterschiedlichen
Erkenntnissen, als Ergebnis der einmaligen Denkstrukturen, die wir während
unserer Sozialisierung aufgebaut haben.
F. Maynard sagt es so: „Unter allen Menschen, die du im Lauf deines
Lebens kennen lernst, bist du der einzige, den du nie verlässt und nie
verlierst. Auf die Frage nach dem Sinn deines Lebens bist du die einzige
Antwort. Für Probleme deines Lebens bist du die einzige Lösung.“5
Damit ist auch die Art und Weise, wie wir Informationen aufnehmen und mit
dem bereits Bekannten verknüpfen für jeden von uns anders – wir kommen
zu unterschiedlichen Einsichten.
Wenn der Konstruktivismus Recht hat, ist alles Konstruktion, die im Kopf
stattfindet – so etwas wie „objektive Wirklichkeit“ existiert nicht. Für Paul
Watzlawick ergeben sich daraus zwei Konsequenzen:
„Erstens die Toleranz für die Wirklichkeiten anderer – denn dann haben die
Wirklichkeiten anderer genauso viel Berechtigung wie meine eigene.
Zweitens ein Gefühl der absoluten Verantwortlichkeit. Denn wenn ich
glaube, dass ich meine eigene Wirklichkeit herstelle, bin ich für diese
Wirklichkeit verantwortlich, kann ich sie nicht jemandem anderen in die
Schuhe schieben.“6
Es geht also nicht um Beliebigkeit!
Daraus ergibt sich eine Reihe von Forderungen:
Sei authentisch – und respektiere, dass andere das auch für sich in Anspruch
nehmen!
„Sprich deine Wahrheit ruhig und klar und höre anderen zu“ wie es in
„Desiderata“ heißt.7 Wir sollten einerseits unsere Einmaligkeit authentisch
leben und andererseits Respekt für die unterschiedliche Einmaligkeit
anderer Menschen haben.
Hier ist ein anderes Zitat, dass diese Einstellung gut wiedergibt: „Die Kunst,
den richtigen Weg zu wählen, besteht aus zwei Ideen:
Erstens, sich aus der eigenen Mitte heraus zu bewegen und authentisch zu
sein und zweitens, Übereinstimmung und Zusammenarbeit mit
anderen zu suchen, weil wir niemals in einem Vakuum agieren.“8
In meinen Seminaren übe ich diese Einstellung mit dem „Tanz von Yin und
Yang“: Zwei TeilnehmerInnen stehen sich mit einem Abstand von 1 bis 2 Meter
gegenüber und nehmen abwechselnd die Positionen von Yin und Yang ein:
Yin: Ich stehe locker und breitbeinig, atme ein und lasse meine Arme vor
dem Körper in einer sich öffnenden Bewegung kreisen: Ich bin bereit für die
Botschaft, die von meinem Gegenüber kommt, ohne zurückzuweichen.
Yang: Ich stehe fest, schütze mit einer Hand meine Mitte (mein „Hara“)
gehe einen kleinen Schritt mit einem Bein nach vorne, zeige meine Entschlossenheit
durch Heben meines Arms nach oben: Ich verkünde meine
Botschaft laut und klar, ohne zu verletzen.
Diese kurzen Bewegungen passieren gleichzeitig und werden durch Ausrufe
unterstützt; die Partner wechseln mehrmals ihre Rolle, jeder ist Yin und
Yang.
Eine weitere Forderung ergibt sich für die Art und Weise, wie wir
kommunizieren:
Mehr Fragender als Antwortgeber – vieles kann als Frage agressionsfreier
übermittelt werden und klingt weniger wie eine absolute Wahrheit. „Wer
fragt, führt“ – jeder gute Coach weiß das. Die Frage ist das Pendant zu einer
anderen Notwendigkeit guter Kommunikation: Zuhören, mit Empathie, also
ohne bereits, sozusagen auf der zweiten Ebene, das „Ja, aber…“ zu formulieren.
Wenn wir dann noch auf die Argumente des Gegenübers eingehen
und bereit sind, zu lernen, merken wir auch, wie unsere Gesprächspartner
sich öffnen und unseren Argumenten mit wacher Aufmerksamkeit zuhören.
So kann aus dem Austausch von Informationen und Meinung Synergie
entstehen.
Das passiert leider bei den Diskussionen über die Ursachen der Finanzkrisen
sehr selten. Kommt dazu noch eine Bühne für die Selbstdarstellung, z. B.
bei einer Talkshow, so mag der Unterhaltungswert zwar groß sein – der
Gewinn an Erkenntnis aber gering.
Wenn Sie jemals einer Diskussionsrunde zugehört haben, in der die
„Gutmenschen“ vor den Haien der entfesselten Finanzmafia warnen,
während die „neo-cons“ die kaum regulierte Freiheit der Märkte fordern,
wissen Sie wovon ich spreche.
Die dritte Forderung hat mit unseren persönlichen Werten zu tun: Demut im
Umgang mit Informationen und Menschen. „Poor in pride and arrogance“
nennt Don Michael das. Wie sicher kann ich sein, dass meine Sicht richtig
ist, dass ich genau weiß, was zu tun ist? Unsere Verpflichtungen sollten wir
entsprechend vorsichtig eingehen – immer in der Erkenntnis, dass wir den
Weg eventuell ändern müssen.
Die von Politikern oft zitierte TINA („There Is No Alternative“) ist eher ein
Ausdruck von Hilflosigkeit – oder von Arroganz!

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In meinen Seminaren zeige ich oft ein Bild, das einen Wegweiser an einer
Gabelung darstellt und der in beide Richtungen weist. Zwei Begriffe darauf
sind in japanischer Schrift geschrieben – werden also von den wenigsten
Teilnehmern verstanden. Manche lachen, sie glauben, es handelt sich um
einen Cartoon – bis ich darauf hinweise, dass das Schild vielleicht etwas
anderes bedeutet: „Du musst Deinen Weg selber finden“ oder „Es gibt
mehrere Wege – entscheide Dich ohne ausreichende Informationen zu
haben“ .
Zu den Werten gehört auch die Empathie, also die Bereitschaft, die Gedanken
und Gefühle anderer Menschen wertschätzend wahrzunehmen.
Empathie ist ein Bestandteil der viel diskutierten emotionale Intelligenz, die
darüber hinaus noch andere wichtige Aspekte umfasst, die für unser Thema
relevant sind, z.B. die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung.
Der Soziologe Paul H. Ray hat in einer vielbeachteten Studie die Gruppe der
„Kulturkreativen“ definiert:
„Ihre Haltung ist gekennzeichnet durch Interesse an (auch spiritueller)
Selbstverwirklichung, Wertschätzung von Beziehungen und ökologischer
Lebensweise, engagierter Anteilnahme an der Welt. Weitere Merkmale sind
Offenheit für fremde Kulturen und neue Ideen sowie für die Transformation
der Geschlechterrollen. Aufschlussreich ist auch, was die Kulturell Kreativen
ablehnen: Die Intoleranz der religiösen Rechten, den gedankenlosen
Hedonismus der kommerziellen Medien und die skrupellose Umweltzerstörung
im Namen des Big Business“. 9
Zwei andere signifikante Gruppen sind die Modernisten („finanzieller
Materialismus, Glauben an technologische Lösungen) und die Traditionalisten
(schätzen Familie und Religion, misstrauisch gegenüber
Veränderungen).
Im Gegensatz zu diesen beiden Gruppen, deren Anteil in Amerika und
Europa eher abnimmt, haben die Kulturkreativen keine Lobby – sie werden
och nicht als eigenständige Wertegemeinschaft wahrgenommen.
Es gibt Schätzungen, dass ihr Anteil in Europa hoch ist (bis zu 38%), aber:
Es gibt noch keine oder kaum gemeinsame Medien, Parteien oder kulturelle
Ausdrucksformen, in denen sich dieses transmoderne Lebensgefühl eines
wachsenden Teils der Bevölkerung widerspiegeln würde.10
Es sind meiner Ansicht nach vor allem diese Menschen, die von der Notwendigkeit
eines Paradigmenwechsels überzeugt werden können, um die
Folge der immer häufigeren und folgenreicheren Finanzkrisen endlich zu
stoppen.
Ich habe mir eine Metapher überlegt, wie man dabei vorgehen kann, die ich
Ihnen zum Schluss anbieten möchte:
Stellen Sie sich vor, sie sind Teil einer Stampede, einer Herde wilder Büffel.
Sie sind einer der wenigen, die wissen, dass die gesamte Herde auf einen
Abgrund zurast.

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Was können Sie tun? Zwei Möglichkeiten sollten Sie ausschließen:
Stehen bleiben – ich lauf nicht mehr mit!
Weiterlaufen – ich kann ja doch nichts bewirken!
Beides schließt die persönliche Katastrophe mit der allgemeinen ein.
Sie sollten, so kompetent wie möglich, Ihre Nachbarn rechts und links, vor
und hinter Ihnen informieren und warnen und sie bitten, die Botschaft zu
verbreiten: „Wir rasen auf den Abgrund zu – Richtung ändern, damit wir die
Katastrophe vermeiden!“
© Roland Spinola

Dieser Aufsatz erschein in der Zeitschrift: „Humane Wirtschaft, 04/2012
Die Bilder stammen aus eigenen Quellen und aus dem Internet (dort: gemeinfrei)

Artikel als pdf: Spinola-Meine beiden Elefanten-1626

Fußnoten:

  1. “Markus Lanz” am 29.04.2010 im ZDF
  2. Süddeutsche Zeitung v. 4.4.2012: „Aufstand gegen die Herrschende Lehre“ (Hans-Jürgen Jakobs. Siehe auch www.mem-wirtschaftsethik.de
  3. http://de.wikipedia.org/wiki/Die_blinden_Männer_und_der_Elefant
  4. Donald N. Michael: „Observations on a Missing Elephant“, Noetic Sciences Review #49, August-November 1999
  5. Fredell Maynard
  6. Paul Watzlawick: Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit, 1982
  7. „Desiderata“ Gedicht von Max Ehrmann (Amerikaner, 1872–1945)
  8. Justine W. Toms, co-founder of New Dimensions Radio
  9. http://www.kulturkreativ.net/about.html
  10. http://www.kulturkreativ.net/about.html