Das Original dieses Artikels findet sich auf unserer englischen Webseite. Viele der verlinkten Quellen und weiterführenden Texte sind daher leider auch nur auf Englisch verfügbar.

2004 las ich “Das Geld der Zukunft” von Bernard Lietaer und es veränderte mein Leben. Dadurch inspiriert, besuchte ich ein paar Monate später eine Konferenz mit dem Titel „Lokale Währungen im 21. Jahrhundert„, und der erste Vortrag, den ich hörte, war von Margrit Kennedy, und das veränderte mein Leben noch mehr. Sie hatten mich überzeugt! Ich konnte nicht anders als alles, was ich bisher gemacht hatte, aufzugeben und mich der Verwirklichung ihrer Visionen zu widmen.

Jetzt, fast 20 Jahre später, bin ich viel unterwegs, um Mitstreiter zu treffen, die zu Ähnlichem inspiriert sind, und um mehr Menschen mit den aufregenden Möglichkeiten anzusprechen und gemeinsam ein neues gesellschaftliches System aufzubauen.

Hier möchte ich erzählen, was ich kürzlich auf dieser Reise gelernt habe, und wie es die Welt verändern wird.

Am 24. September verließ ich mein Zuhause in Madison, Wisconsin, um mich mit alten und neuen Freunden auf einen zweieinhalb-wöchigen „Solidarity Sprint” durch Teile Europas und Großbritanniens zu begeben (weitere Einzelheiten unserer Tour hier auf Englisch).

Ein solcher Solidarity Sprint ist ein Format, das wir für uns entwickelt haben, um mit wenig Zeit und Aufwand möglichst viele Menschen und Projekte zu treffen, die mit unseren Werten übereinstimmen, und auf eine kooperative, auf den Menschen zugeschnittene und dem Leben dienliche Wirtschaft hinarbeiten.

Bei unseren jahrzehntelangen Experimenten und Forschungen zu einer Wirtschaft  nach menschlichem Maß  haben wir erkannt, dass der Kern  all dessen in dem steckt, was wir Arbeit nennen. Also, wie wir arbeiten, mit wem wir arbeiten, wie wir Arbeit definieren und aufteilen, wie wir sie belohnen und Anreize für gute und gesunde Teilhabe setzen. Wir müssen nicht nur sicherstellen, dass die wirklich wichtige Arbeit erledigt wird – die Arbeit in der Pflege, der Schaffung und des Wachstums gesunder Lebewesen in gesunden Gemeinschaften eingebettet in gesunde Ökosysteme -, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass sie gut erledigt wird.

Gleichzeitig müssen wir auch dafür sorgen, dass Menschen nicht mehr gezwungen sind, irgendwelche miesen Jobs anzunehmen, nur um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Wir haben die feste Absicht, ausbeuterische Arbeit durch lohnende, von gegenseitiger Hilfe getragene Arbeit zu ersetzen (siehe unser kurzes Einführungsvideo hier, auf Englisch).

Und deshalb haben wir uns auf diese multidisziplinäre Lern- und Gestaltung-Reise begeben. Dieser Bericht über unseren jüngsten Sprint soll eine Vielzahl von Facetten dieser Entwicklung aufzeigen.


Aber, wer sind “wir”? Wir sind die HUMANs!

 

HUMANs steht für “Humans United in Mutual Aid Networks”, und ist eine Genossenschaft,  der weltweit alle beitreten können. Das bedeutet, dass Einzelpersonen, Projekte, Organisationen und Unternehmen Genosse*in werden können und jeweils Stimmrecht und Anteil am Eigentum der Organisation erhält, zusammen mit der Einladung, sie zu gestalten. Mehr dazu auf unserer Webseite.

Wir kreieren Netzwerke echten Vertrauens, zunächst örtlich oder nach gemeinsamen Interessen, in denen Ressourcen zum gegenseitigen Nutzen ausgetauscht und geteilt werden. Dann verbinden wir diese Netzewerke durch dieselben Mittel der gegenseitigen Hilfe untereinander. So entsteht ein weitläufiges Netz des Vertrauens, das sich über viele Orte und Interessengebiete erstreckt. Unser Ziel ist es, eine nachbarschaftliche globale Wirtschaft aufzubauen, und seit diesem Sprint sind wir auf dem besten Weg dazu.

In der Praxis bedeutet dies, dass wir jede uns bekannte kooperative Wirtschaftstechnologie nutzen, sofern sie mit unseren Werte kompatibel ist, und daran arbeiten, sie so zu kombinieren, dass ein relevanter wirtschaftlicher Austausch möglich ist und die Notwendigkeit der Teilnahme an ausbeuterischen wirtschaftlichen Aktivitäten nach und nach entfällt. 

Zunächst verwenden wir die Praxis des Timebankings (auf deutsch Zeitbanken oder Tauschkreise genannt), welche eine Form des gegenseitigen Kredits bereitstellen, bei der nur in Zeiteinheiten gehandelt und gerechnet wird. Dabei ist die Stunde jedes Einzelnen gleich viel wert wie jedes Anderen, unsere Zeit hat keinen Preis. Wir teilen auch unsere Ressourcen, zum Beispiel über Werkzeuge-Bibliotheken, Gemeinschaftsgärten, Makerspaces, Gemeinschaftsräume und Ähnliches. Dies kombinieren wir so weit wie möglich mit anderen Formen von komplementären Währungen und arbeiten daran, diese Konzepte so schnell wie möglich auszubauen. Zum Beispiel können bei anderen Formen von gegenseitigen Kredit (A.d.R.: auf deutsch missverständlicherweise Barter-Währungen genannt) machen die Teilnahme von Unternehmen aller Größenordnungen leicht möglich, weil sich die Währungseinheiten dieser Systeme im Wert an der jeweiligen Landeswährung orientieren, auch wenn sie nicht in diese getauscht werden können. So sind sie aber wie jede andere geschäftliche Transaktion verbuchbar und können auch ohne Probleme in die Steuererklärung einfließen. Außerdem legen wir unter uns konventionelles Geld zusammen und verwalten diese Beträge kollektiv, um eine freiwillige Risiko- und Vermögens(um)verteilung in unseren Gemeinschaften zu ermöglichen.

Wir verbinden all dies mit Peer-to-Peer-Arbeitspraktiken, Governance- und Software-Tools, um ein ausgeklügeltes System zu schaffen, das es ermöglicht, gemeinschaftsfördernde Arbeit einfacher zu verwirklichen, zu integrieren, aufrechtzuerhalten und sinnvoll zu entlohnen. Denn wir wissen ja, dass echter Reichtum nicht aus Dollar und Euro besteht, und haben gelernt, wie wir solchen auf eine umfassendere und werteorientierte Weise erkennen, aufbauen und bewerten können. Bei der Durchführung unserer auf Gegenseitigkeit beruhenden Projekte stellen wir unsere Verfahren, Unterlagen, Materialien, unser Wissen und unsere moralische Unterstützung frei zur Verfügung, um anderen bei der Nachahmung zu helfen, aus Fehlern und Erfolgen zu lernen und inspiriert zu bleiben.


Stephanie, Matthew, Sybille und Gorazd in Ljubljana

Zurück zum Thema echtes Vertrauen und lebendige Gemeinschaft: bei meiner Ankunft im schönen Ljubljana in Slowenien wurde ich von Sybille Saint-Girons aus Frankreich empfangen, die ich nach sechs Jahren zum erstem Mal wiedersah. Kennen gelernt haben wir uns 2013, als wir als „The Economistresses“ durch Paris reisten und Schulungen und Öffentlichkeitsarbeit durchführten, und seitdem haben wir zusammengearbeitet. Sie entwarf unser erstes online “Zuhause”, die Mutual Aid Platform, und half bei der Entwicklung der Vision für die nächste Version davon, unser aktuelles und überaus funktionales HOME, das “HomeOstatic Mutual Environment”. Dabei handelt es sich um das Open-Source-Ökosystem für Technologie und Austausch, das wir gemeinsam mit unseren Partnern aufbauen, um all die im vorigen Absatz erwähnten Arbeitsabläufe und den Wissensaustausch zu erleichtern.

Der andere Schöpfer unseres neuen HOME, Gorazd Norcic, war unser Gastgeber in Ljubljana. Es war schön, ihn nach so vielen Jahren des virtuellen Zusammenarbeit nun endlich am Flughafen Ljubljana persönlich zu treffen.

Ausgebildet als Maschinenbauingenieur ist er gerade alt genug, um seinen Abschluss noch im sozialistischen Jugoslawien/Slowenien gemacht zu haben, aber dann für einen aufbauenden MBA in die kapitalistischen USA reisen konnte. Heute kombiniert Gorazd seine Expertise als Unternehmer in den Bereichen Turnaround-Management, Marketing, Softwareprogrammierung und Videoanimations-Produktion, alles  in extraktiven Industrien, mit seiner Lebenserfahrung in jugoslawischen Selbstmanagement-Praktiken. So trägt er nun zur Schaffung nicht-extraktiver, nachhaltiger, selbstverwalteter Ökosysteme bei, und wir sind stolz darauf, dass er der Hauptarchitekt unseres HOME ist.

Wir sind stolz auf unser neues virtuelles Zuhause: The new „HOME“

Gorazd und seine liebevolle Frau Mateja haben uns eine ganze Woche lang beherbergt. Mateja ist eine wahre Küchen-Fee, und wir wurden die ganze Zeit mit dem köstlichsten gesunden Essen verwöhnt, das ihr Catering-Unternehmen (und HOME-Partner) Pomander zu bieten hatte. Pomander z.b.o. ist eine Genossenschaft, die ebenfalls als Inkubator gegründet wurde. Derzeit beherbergt sie das florierende und größtenteils vegane Zero-Waste-Catering-Unternehmen von Gorazd und Mateja, aber das “Humanum Institute” und mehreren andere Projekten sind bereits im Entstehen. Und dafür verwendet Pomander unsere HOME-Softwaretools zur Verwaltung und Abwicklung ihrer Aktivitäten. Damit demonstrieren sie ganz praktisch, wie diese Werkzeuge die Welt der Wirtschaft/Produktion mit der Welt einer Wirtschaft auf menschlicher Ebene verbinden können, damit wir uns alle gegenseitig besser unterstützen lernen. Die üblichen Geschäftspraktiken werden so in pro-soziale Praktiken verwandelt und alles basiert auf demselben nicht-extraktiven Modell der “Reziprozitätsschleife”, die wir in unserem HOME-Projekten umsetzen (mehr dazu in dieser PDF zum Herunterladen).

Matthew Slater, kam ebenfalls nach Ljubljana. Er hat uns seit Anfang der 2000er Jahre unterstützt, als es um die Software-Entwicklung für “Madison HOURs” ging (das ist die lokale Währung, die ich in meiner Stadt 1996 als Papierwährung einführte, und dann versuchte in eine Barter-Währunge zu überführen, bevor sie schließliche eingestellt wurde, bzw. ein Bestandteil unseres lokalen Mutual Aid Networks wurde). Seitdem hat er uns immer wieder erstaunliche neue Partner und Ideen vorgestellt und war nun die Woche lang mit uns in Slowenien, wo wir zusammen tief in Software-Entwicklung eintauchen konnten. Matthew ist der Hauptentwickler der Community Forge-Software, welche von den HUMANs und meinem lokalen Mutual Aid Network für Marktplätze und Transaktionen genutzt wird. Matthew hat dafür auch Mutual-Credit Modul für das Drupal CMS geschrieben, das heute viele, wenn nicht sogar die meisten Zeitbanken und LETS-Systeme ihre Online-Angebote aufbauen. Matthew aktualisiert und pflegt auch unsere aktuellen Marktplätze und arbeitet außerdem an “Murmurations”, einer Initiative, die es möglich macht, Angebote und Gesuche von verschiedenen Komplementärwährungen-Initiativen auch plattformübergreifend zusammenzuführen. Wir freuen uns darauf, Murmurations selber für unsere lokalen und globalen Systemen zu testen, da dies verspricht, ein Schlüsselelement für die volle Umsetzung unseres HOME-Projekts zu werden.

 

Matjaz, unser freundlicher lokaler Odoo-Experte, kam für einen Nachmittag mit dazu, um uns bei der Ausarbeitung wichtiger Details zu helfen (Odoo ist eine Hauptkomponente der Open-Source-Technologie im virtuellen Maschinenraum des HOME). Zach von Moneyless Society kam ebenfalls nach Ljubljana, um uns für den abendfüllenden Dokumentarfilm zu filmen, an dem er gerade arbeitet. Die großartigen Aufnahmen stellte er uns freundlicherweise zur Verfügung, damit wir sie in unserer eigenen Berichterstattung und in unseren kommenden Mutual Aid Podcast einbauen können. Die Folge seines eigenen Moneyless Society-Podcast, die wir gemeinsam aufgenommen haben, wurde gerade bei Redaktionsschluss dieses Artikels veröffentlicht.

Zu guter Letzt kam Kate aus England nach Slowenien, um ihre Erfahrungen mit der florierenden Mutual Aid-Schwester-Organisation in Hull mit uns zu teilen, und mit uns an der Lösung ihrer eigenen Bedürfnissen und den dazu benötigten Funktionen des HOME zu arbeiten sowie sich mit uns allen über allgemeine Strategiefragen auszutauschen.

Was für eine fruchtbare Woche! Und das war nur die erste Hälfte des Sprints…

Weiter nach Österreich

Gorazd und ich machten uns schließlich auf den Weg und reisten den Rest des Weges gemeinsam, wobei wir viele alte und neue Freunde und Partner trafen. Zu Beginn dieser Reise spielte ich in Wien ein Konzert mit Edward Reardon (Original-Klaviermusik), meinem alten Freund und Produzent der meisten meiner Stücke. Wenn Sie möchten, können Sie sich das Konzert auf Peertube ansehen, einer Video-Sharing-Plattform, die ich über eine gemeinsame Schnittstelle mit Communecter nutze, einem unserer kooperativen Tech-Partner.

Projektmanagement Werkzeuge im neuen HOME

In unserer HUMANwirtschaft werden wir gegenseitige Hilfsnetzwerke nutzen, um Leute zu finden, die helfen, Shows wie diese zu promoten. Wir werden Tickets im Netzwerk verfügbar machen, wir werden Flugmeilen und Hosting tauschen, um die Kosten für Auftritte zu senken und Shows für mehr Menschen zugänglich und bekannt zu machen. Wir haben damit begonnen, indem wir unsere eingesetzte Zeit mit unseren Gastgebern in unserem HOME-Marktplatz protokolliert haben. Dies ist das globale Netzwerk, mit dem wir bereits experimentieren und das wir durch die oben erwähnten Murmurations-Platform mit anderen Netzwerken verbinden.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Zug nach Wörgl und trafen uns dort mit unserem guten langjährigen Freund Leander Bindewald von monneta.

Wir kamen hierher, um uns mit der erfahrenen und kompetenten Veronika Spielbichler zu treffen, die uns als Vorsitzende des Unterguggenberger Instituts das damals noch nicht eröffnete neue Stadtmuseum und das Unterguggenberger Institut zeigte. Falls Sie den Namen nicht kennen: Unterguggenberger war der Nachname des Wörgler Bürgermeisters während der Weltwirtschaftskrise, als eine Gruppe von Unternehmern und der Gemeinderat eine lokale Währung einführte, die die Stadt aus der Armut holte und zu internationaler Bekanntheit verhalf. Das Experiment wurde weltweit gefeiert und nachgeahmt, da es als Schlüssel zur Überwindung der Depression angesehen wurde. Doch der im Entstehen begriffene Völkerbund (Vorläufer der Vereinten Nationen) erkannte, dass dies für ihn und die kürzlich mit internationalen Finanziers ausgehandelten Rettungspakete problematisch sein könnte. Wir können ihre Argumente nachlesen und selbst darüber spekulieren, aber am Ende bedeutete dieser Widerstand, dass das Projekt gewaltsam beendet wurde (es gibt einen großartigen Film – Das Wunder von Wörgl – aus dem Jahr 2018, wenn Sie mehr über das Experiment sehen möchten). Neben der Beendigung und dem Verbot dieser lokalen Währungsexperimente (parallel dazu verbot Franklin Delano Roosevelt, US-Präsident während der Großen Depression, auch lokale Währungen in den USA, als er seinen New Deal ankündigte), stürzte damals die Welt in Chaos und der große Krieg führte zu einer weiteren Welle von Armut und Zerstörung. Wir haben in Wörgl viele Details über diese und andere Geschichten von Komplementärwährungen erfahren. All dies kann uns helfen, einen widerstandsfähigeren Weg aus unseren neuen chaotischen Umständen einzuschlagen.

Treffen mit monneta-Experten Veronika Spielbichler und Leander Bindewald

Einige der wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Besuch waren:

  • Hier wie anderswo werden Währungsexperimente in der Regel einer einzigen politischen Figur zugeschrieben, obwohl es in Wirklichkeit ein Gemeinschaftsprojekt war, das von einer ganzen Gruppe von engagierten Freiwilligen entwickelt wurde.
  • Der Erfolg der Währung war gleichzeitig auch ein großer Teil dessen, was sie in Gefahr brachte. Die Aufmerksamkeit auf eine Lösung zu lenken, die die Menschen aus der künstlich geschaffenen zentralen Kontrolle der Geldmenge herausholt, schafft eine spürbare Bedrohung für die Herrschenden, und sie reagieren darauf, indem sie ihre Autorität geltend machen, um sie zu unterdrücken. Jede wirtschaftliche Lösung, die wir schaffen, muss gegen diese Art von Bedrohungen resistent sein, und wir müssen auf sie vorbereitet sein.
  • Von der Gemeinschaft geschaffene Währungen sind tatsächlich in der Lage, lokale Angebots- und Nachfrageprobleme zu lösen, und wir müssen sie ernst nehmen. Gleichzeitig neigen Menschen dazu, die Flexibilität der konventionellen Geldmenge zu bevorzugen, wenn diese gelockert wird.
  • Wir müssen uns des politischen Kontextes bewusst sein, in dem wir uns bewegen, und der sehr realen Gefahren und Möglichkeiten, die er bietet.

Möchten Sie Bilder und kleine Videos von unserem Besuch sehen? Schauen Sie hier, in unserem werte-konformen File-Sharing-Bereich.

Weiter zu ernsthaften praktischen Lösungen, im Hier und Jetzt

Wenige Autostunden von Wörgl entfernt besuchten wir ein langjähriges und gut organisiertes Währungsprojekt mit Sitz in Dornbirn, der westlichsten Stadt Österreichs. Dort verbindet die Genossenschaft Allmenda ein sehr systematisches Modell des Timebankings mit anderer lokalen Währungen. Ihr aktuelles Flaggschiff ”Zeitpolster“  belohnt Erwachsenen, die sich ehrenamtlich um andere  kümmern mit Zeitgutschriften.   Wenn sie selbst pflegebedürftig werden, können sie diese Zeitgutschriften nutzen. Außerdem ist es möglich, Gelder von Mitgliedern einzubringen, die für die Pflege bezahlen (ohne zuvor Pflegeleistungen beigesteuert zu haben). Das so eingesammelte Geld wird für zukünftige Hilfeleistungen ausgegeben, wenn diese nicht durch vorher erbrachte Zeitguthaben verfügbar sind . Im Bundesland Vorarlberg, wo Allmenda ansässig ist, betreiben sie auch regionale Zeitbanken (“Talente“), die sie mit Euro-gedeckten lokalen Währungen verbinden, oft auf großen Pop-up-Märkten, die auch zur Stärkung der Gemeinschaft dienen.

Mit Gernot Jochum-Müller und Zeitpolster im Büro

Darüber hinaus bietet Allmenda sein Zeitpolster-Modell auch als Franchiseunternehmen an und sucht Partner in weiteren Ländern, darunter Deutschland, den USA und Slowenien. Dies kann eine gute Möglichkeit sein, ein gut entwickeltes Modell zu übernehmen, benötigte Start-Hilfe zu erhalten und die Arbeit der Entwickler zu unterstützen.

Gernot Jochum-Müller, der engagierte Gründer und Leiter von Allmenda, teilte seinen großen Wissens- und Erfahrungsschatz auf diesem Gebiet mit uns und meine Notizen von diesem Besuch füllen 6 Seiten!

Hier möchte ich einige der vielen Schätze zusammenfassen, die wir aus unseren Treffen mit ihm mitbringen:

  • Dieser Timebanking-Ansatz ist viel strukturierter aber auch rigider als unser Ansatz in den USA und bei den HUMANs insgesamt. Während wir Timebanking tendenziell als sehr fließend betrachten und einen Ansatz verfolgen, der kein Kreditlimits hat (Mitglieder können Stundenleistungen abfragen, bevor sie ein eigenes Guthaben verdienen, und können gerne einen so großen negativen Saldo haben, wie sie benötigen, solange sie in irgendeiner Form Gegenseitigkeit anbieten), sind die Systeme von Allmenda darauf ausgelegt, ein hohes Maß an Pflege und Nachhaltigkeit zu bieten. Außerdem scheint das Timebanking in Österreich generell strenger reguliert zu sein. Ein Beispiel für die Funktionsweise ihres Systems: Kommt jemand pflegebedürftig in das System Zeitploster, zahlt er für Hilfeleistungen einen geringen Betrag in Euro, von dem die Hälfte für die Aufrechterhaltung des Systems insgesamt und die andere Hälfte für bezahlte Pflegekräfte verwendet wird. Wenn ein Mitglied jedoch zunächst als Pflegender beitritt, sammeln sich die erbrachten Stunden als Guthaben auf seinem Konto. Wenn dieses Mitglied dann älter wird und mehr Pflege benötigt, als es leisten kann, erhält es Pflegestunden, die mit dem zuvor angesammelten Zeitguthaben bezahlt werden.
  • Die Leiter von Allmenda verfügen über ein enormes Maß an rechtlichem Wissen und Erfahrung. Sie sind von vielen Institutionen anerkannt und stehen gerne zur Verfügung, um andere Projekte zu unterstützen.
  • Das Geschäftsmodell von Allmenda umfasst die Gründung von Franchises. Damit können auch Sie und Ihre Community von deren unglaublichen Wissenspool profitieren.
  • Die rechtliche Anerkennung, die sie für ihre Methoden zur Umsetzung von Komplementärwährungen gewinnen, kommt allen anderen Projekten in der EU zugute.
  • Sie haben ein Geschäftsmodell, das viel strenger ist als alles, was wir entwickelt haben. Dies sichert die Integrität ihres Modells so, wie sie es entworfen haben, und sorgt für eine langfristige wirtschaftliche Sicherung. Jedoch macht es das auch für andere schwieriger, ihre Praktiken zu erlernen, zu übernehmen und anzupassen. Dies ist eine gute Inspiration für uns, irgendwo in der Mitte dieser beiden sehr unterschiedlichen Ansätze einen Weg zur Zusammenarbeit und zum Wissensaustausch einzuschlagen.

Damit war unsere Arbeit in Österreich abgeschlossen, weiter nach Großbritannien!

Gorazd und ich flogen nach London und machten uns auf den Weg zum schönen Haus von Dil Green, einer Mitbegründerin der Credit Commons Society (CCS) und der Mutual Credit Services (MCS). Mutual Credit Services stellt Softwaretools zur Begleichung von Rechnungen innerhalb der lokalen Geschäftswelt bereit, ähnlich wie es Banken untereinander tun, wenn sie ihre Schulden untereinander aufrechnen und nur verbleibende Geldbeträge überweisen. Wir können das Gleiche tun! Und MCS kann helfen.
Die Credit Commons Society hingegen ist der gemeinnützige Bildungszweig des Projekts, der nützliche Möglichkeiten für die Mutual-Credit-Buchhaltung (Credit Commons genannt) schafft und die Menschen über deren Nützlichkeit in einem fairen Wirtschaftskontext aufklärt.

Dil hosting us in his London home

Dil beherbergte uns für diesen Abend, sodass wir ausführlich über gemeinsame Erfahrungen und Werte sowie Möglichkeiten der Zusammenarbeit sprechen konnten. Wir haben uns einige spannende Ideen einfallen lassen! Eines der wichtigsten Projekte ist die Erforschung der Zusammenarbeit, um das Credit Commons-Tool zu unserem Haupt-Austauschmittel zu machen und mehr Möglichkeiten zur Verbindung mit vielen anderen Austauschsystemen (Zeitbanken, LETS-Systeme, Community-Exchange-Systeme, Business-to-Business-Netzwerke) zu schaffen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, unsere eigenen odoo-basierten HOME-Tools anzubieten, um einige der von MCS benötigten Funktionen abzudecken. Dies sind genau die Verbindungen, die wir finden wollten – Möglichkeiten, wie jeder von uns seine individuelle Arbeitsleistung reduzieren und gleichzeitig die Wirkung und den Umfang unseres Peer-Support-Netzwerks erhöhen kann.

Dil sagte einen Satz, den ich seitdem oft zitiert habe, etwa so: „Ohne gegenseitige materielle Abhängigkeit neigen Gemeinschaften dazu, dem Narzissmus der kleinen Unterschiede zum Opfer zu fallen.”

Bei der Entwicklung unserer eigenen materiellen Abhängigkeiten haben wir uns nun für die Partnerschaft mit Dil entschieden und arbeiten regelmäßig daran, die Credit Commons zu nutzen, um den Austausch im HUMANs-Netzwerk und darüber hinaus zu erleichtern. All dies geschieht unter Verwendung der Standard-Value-Flows-Prinzipien (mehr dazu in einem anderen Artikel, siehe hier), um Austausch in und zwischen einer Vielzahl von Gemeinschaften auf der ganzen Welt in einem Netzwerk nachbarschaftlicher Beziehungen zu schaffen, und so umfangreich, dass damit alle Grundbedürfnissen abgedeckt werden.

Von Dil’s gingen wir direkt zu dem Mann, den wir alle online nur als Oli SB kannten: mit vollem Namen Oliver Sylvester Bradley, einem Gründer von Open Cooperative und meet.coop und einem wichtigen Entwickler des Murmurations-Projekts. Wir haben im Laufe der Jahre von Olis Arbeit gehört und waren begeistert, wie sehr seine Vision mit dem übereinstimmt, was wir tun wollen. Bei unserem persönlichen Besuch stellten wir fest, dass es mehr Überschneidungen bei unserer Arbeit und unseren Interessen gibt, insbesondere bei der für Murmurations verwendeten Technologie, die in der Lage ist, Angebote und Gesuche über verschiedene Tauschbörsen hinweg zu aggregieren und darzustellen, und die wir nun als Mittel zur Verwaltung unseres eigene Kollaboration über lokale Netzwerke hinweg ausprobieren.

Wir organisierten hier auch ein Online-Treffen mit Robert Woolf von madeopen, der kürzlich die neue Timebanking-Software für timebanks.org entwickelt hat. Wir sind gespannt zu erforschen, wie wir gegenseitige Anerkennung, gegenseitige Hilfe und Unterstützung durch Gleichgesinnte nutzen können, um unsere eigene Arbeit zu erleichtern, das Risiko zu bündeln und die Anreize auf eine Weise zu bündeln, die uns UND das System, das wir aufbauen, nährt. Wir arbeiten jetzt zusammen, um die aggregierten Angebote und Bedürfnisse von Murmurations mit der Funktionalität von Credit Commons und dem Standardvokabular von Value Flows zu verbinden und so Herzstück des Wirtschaftssystems zu schaffen, das wir bei HOME aufbauen.

Weiter zu unserem letzten Stopp: Hull, im Nordosten Großbritanniens, wo der Rest des Sprints stattfand

Hier treffen wir Kate wieder, die uns am Bahnhof von Beverley mit ihrem entzückenden kleinen Hund Ted abholt. Der kann wie ein “Zirkushund” laufen – das heißt, er geht auf zwei Beinen wie ein pelziger kleiner Mann und zwar wirklich schnell! Allein das zu sehen, schien schon eine Reise wert.

Wiedersehen mit Kate und iherm zirkusreifen Hund

Diese Etappe war möglicherweise die “sprintigste” des ganzen Sprints.

Als HUMANs haben wir eine starke Verbindung zu Hull, seit ich Kate Macdonald, Direktorin der dortigen florierenden Zeitbank “Hull and East Riding” (893 Mitglieder), auf einer Konferenz im Jahr 2014 traf. Seit diesem Treffen kam Kate erst zu unserem 10-jährigen Jubiläum nach Madison und machte dann ihr Projekt zu einer HUMANs-Sister-Site. Ich war immer beeindruckt von der Breite und Tiefe ihrer Arbeit. Mittlerweile betreiben sie ein florierendes Gemeindezentrum und haben neben vielen anderen tollen Aktivitäten auch Food-Sharing- und Food-Business-Inkubatoren ins Leben gerufen. Wir waren vor dieser Reise auch bereits dreimal in Hull und traten u.a. bei der BBC auf, wo wir über restaurative Gerechtigkeits-Ansätze und unsere Projekte sprachen.

Im Jahr 2016 waren wir dort auch Mitveranstalter eines MAN Up Summits und verbrachten etwa eine Woche mit gemeinsamen Lern-, Visions- und Umsetzungs-Treffen.

Damals waren wir auch alle begeistert von der Partnerschaft mit einem Projekt namens Hull Coin, das sich darauf konzentrierte, eine Blockchain-basierte Komplementärwährung in die Stadt zu bringen, mithilfe einer formellen Partnerschaft mit der Stadtverwaltung. Wir sahen die Möglichkeiten, wie Hull Coin eine weitere Nische füllen könnte, die wir bei den HUMANs bisher hofften mit Barter-Währungen oder der Common-Good-Karte zu leisten. Die Details der weiteren Entwicklung hebe ich für eine anderen, längeren Artikel auf, aber ich möchte zumindest sagen, dass Hull Coin nie in der Art und Weise verwirklicht wurde, wie es beabsichtigt war.

Das stimmt gut mit meiner Erfahrung überein, dass Komplementärwährungs-Initativen, die stärker an konventionellem Geld und Institutionen orientiert sind, zwar von der Presse und der Öffentlichkeit leichter aufgegriffen werden, weil ihre ausschließlich auf Transaktionen basiert Ausrichtung, eher den althergebrachten Erfahrungen entspricht- letztlich aber ihren eigenen Zielen nicht gerecht werden können. Meiner Ansicht nach ist dies jedoch zu sehr eine Nachbildung des alten Systems, und treibt die Atomisierung unserer Gesellschaft nur weiter voran, während unser mutual-credit-Ansatz mehr individuelle Handlungsfähigkeit bietet, mehr systemische Veränderungen ermöglicht und leichter umsetzbar ist. Die Synergie der beiden hätte eine starke Brücke sein können, aber leider sollte es nicht dazu kommen. Den meisten Initiativen, die ich getroffen habe, ist gemeinsam, dass es noch viel darüber zu lernen gibt, wie man effektive Partnerschaften aufbaut, die alle Parteien stärken.

Am nächsten Tag hatten wir eine Schulung zum Thema “The Art of Invitation”, bei der ein Raum voller Teilnehmer auf unserer Seite von Ruth Ben-Tovim online geleitet wurde. Es war ein großartiges Beispiel dafür, wie man die Gemeinschaft auf unterhaltsame Weise einbezieht und durch Co-Hosting und der Ausbildung von Führungsqualitäten und -kapazitäten unterstützt. Denn wir übersehen oft die wesentliche Tatsache, dass eine Veränderung unserer Wirtschaft auch eine Änderung unseres Verhaltens und unserer Beziehung zueinander und zu unseren Gemeinschaften bedeutet. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir erkennen, wie wichtig es ist, wie wir unsere verstreuten Interessen zusammenbringen, und uns darin schulen, dies immer besser zu leisten.

Zusammenarbeit im Gemeinschaftszentrum in Hull

Apropos: Am nächsten Tag veranstaltete die Timebank eine Party in ihrem Marfleet Community Center, und ich spielte Musik, gefolgt vom DJ Earthman. Es war eine sehr coole Veranstaltung, die eine tolle Mischung an Menschen zusammenbrachte. Am Sonntag fand ein Treffen im Plotting Room des Ye Olde White Harte Pub statt. Ein historischer Ort der Anti-Establishment-bewegung! Und unser Gespräch war reichhaltig und passend zum Rahmen. Zu uns gesellten sich ein paar Mitglieder von Cooperation Hull, unser DJ vom Vorabend, einige Mitglieder und Freunde von Timebank Hull und East Riding und ein paar Künstler – eine insgesamt sehr interessante und inspirierende Gruppe. Die Themen drehten sich um die Rolle der Kreativität beim Aufbau einer Wirtschaft gegenseitiger Hilfe, und vor allem um eine offene Auseinandersetzung mit unseren gemeinsamen Träumen, Wünschen, Strategien und Taktiken, und wie wir uns gegenseitig besser unterstützen können, um eine Welt zu schaffen, von der wir träumen. Sehr fruchtbar! Seitdem haben wir vielfach unsere Notizen und Kontaktinformationen verschickt und verfolgen mit Spannung, wie sich diese neuen Verbindungen entwickeln, einschließlich der Zusammenarbeit der Timebank und Coop Hull.

Im Anschluss an das Treffen machten wir einen Rundgang durch DJ Earthman unglaublich fruchtbaren Gemeinschaftsgarten, der nach Permakultur-Prinzipien angelegt ist und jede Menge Nahrungsmittel und Schönheit bietet. Auf demselben Grundstück gibt es auch ein weiteres Gartengrundstück, das der Zeitbank und ihren Mitgliedern gehört und von ihnen bestellt wird, sowie Gartenstücke die über den NHS (A.d.R: NHS steht für national Health Services, dem staatlichen Gesundheitssystem Englands) für Menschen zur Verfügung gestellt werden, die psychische Unterstützung benötigen. Es ist cool zu sehen, dass große Institutionen den Wert von Gartenarbeit und Gemeinschaft für die psychische Gesundheit erkennen.

Montag war unser letzter Arbeitstag und es war ein großer, lustiger und hochkonzentrierter Tag. Wir gingen zurück zum Marfleet Community Center, wo wir mit einigen Freunden, Partnern und Mitgliedern einen virtuellen Rundgang durch unser HOME-Tech-Ökosystem machten und erfuhren, was unsere Dreamer- oder Sister-Site Mitgliedschaft bei den HUMANs für sie bedeuten könnte. Am aufregendsten war die Teilnahme unserer Partner aus dem “Alderman Kneeshaw Park”, in dem sie auf wunderbare Weise Gartenarbeit und Gemeinschaft für Menschen aller Couleur zugänglich machen. Die Mitarbeiter des Parks befinden sich in der gleichen Zwickmühle, die der Erfolg im Non-Profit-Sektor oftmals mit sich bringt: Irgendwann scheint es an der Zeit, sich offiziell als Organisation zu etablieren, Gelder zu beantragen und eine Belegschaft, sowie Öffentlichkeitsarbeit und Infrastruktur zu entwickeln. So scheint es, als ob unser Tech HOME und das zugehörige Peer-Support-Netzwerk jetzt sowohl für die Timebank in Hull als auch für den Alderman Kneeshaw Park sehr hilfreich sein wird, um dies alles zu leisten, und wir arbeiten eng zusammen, um das zu entwickeln, was sie nun benötigen – und dokumentieren gleichzeitig diese Erfahrung, um sie für zukünftige Teilnehmer und Projekte reibungsloser und hilfreicher zu gestalten.

Puh!

Nach einem feierlichen Abendessen flogen wir alle in unsere jeweilige Heimat und arbeiten seitdem jede Woche daran, alle Querverbindungen und Entwicklungspfade, die wir während des Sprints entdeckt haben, weiterzuverfolgen.

Ohne die Unterstützung von monneta hätten wir all das nicht geschafft, und jetzt freuen wir uns darauf, über monneta mit neuen Interessierten und Partnern in Kontakt zu kommen, die wie wir daran arbeiten, Margrit Kennedys Vision zu verwirklichen. Und wir sind dankbar, dass dem durch die Arbeit von Kathrin Latsch, Declan Kennedy, Leander Bindewald und allen weiteren Netzwerk-Experten ein Raum gegeben ist.

Ein großes Dankeschön an alle und wir freuen uns auf den Tag, an dem wir feststellen, dass wir es gemeinsam geschafft haben. Bis dahin lade ich Sie ein, davon zu profitieren, was wir bisher geleistet haben: Sie können unserer Genossenschaft beitreten, Angebote und Gesuche auf unserem Marktplatz veröffentlichen oder an unserem nächsten Event teilnehmen, bei denen wir in Zukunft die  Früchte unserer Arbeit präsentieren werden.

 

 

Die internationale Forschungsvereinigung RAMICS organisiert eigentlich alle zwei Jahre einen großen Forschungskongress zu Komplementärwährungen, den einzigen weltweit: Im September 2019 fand der Vorletzte in Hida-Takayama in Japan statt (wir berichteten). Nur wenige Monate später brachte die Covid-Pandemie nicht nur unseren Veranstaltungskalender zum Stillstand. Die folgende  Konferenz war  damals bereits für den September 2021 angesetzt, aber schon bald zeichnete sich ab, dass dies nicht ohne Einschränkungen möglich sein würde. Um nicht durch ein reines Online-Programm auf persönliche Treffen unter Kollegen verzichten zu müssen, fand diese Konferenz schließlich erst im vergangenen Monat, vom 27.-29. Oktober 2022, in der bulgarischen Hauptstadt Sofia statt. 

Rossitsa Toncheva von der dortigen “University for National and World Economics” und das bulgarischen “Monetary Research Center” hatten bereits am Ende der Konferenz in Japan die Ausrichtung der Folgeveranstaltung an diesen Instituten angeboten, weil die Idee komplementärer Währungen in Bulgarien noch kaum bekannt ist. Dadurch war von vornherein klar, dass die Kombination aus Forschungskonferenz und einem Treffen von Aktivisten und Initiativen, die sich bei den fünf vorangegangenen RAMICS Kongressen als höchst inspirierend erwiesen hatte, diesmal schwerlich umsetzbar sein würde.

Außerdem bevorzugten immer noch viele der Wissenschaftler, die ihre Arbeiten für Präsentationen während der Konferenz eingereicht hatten, nicht persönlich nach Bulgarien zu reisen, sondern das während der Pandemie weithin praktizierte Format der virtuellen Vorträge wahrzunehmen.

Insgesamt wurden 52 Forschungsarbeiten und Erfahrungsberichte vorgestellt. 30 davon durch Teilnehmer in Sofia, die nicht nur aus Europa, sondern auch aus Brasilien, den USA, Japan und anderen Ländern angereist waren. Zusammen mit Interessierten aus Bulgarien und Studenten der Universität selbst waren damit knapp über 40 Teilnehmer im Publikum, zumindest während der hochkarätigen Keynotes und der Eröffnungsveranstaltung. 

Für die Online-Präsentationen während der ersten zwei Tage waren insgesamt 85 Teilnehmer registriert, die sich auf jeweils 4 parallele Sessions verteilten. Denn anders als bei anderen “hybriden” Veranstaltungen der letzten Jahre, wurde hier strikt zwischen online und “on-site” Sessions/Panels unterschieden. Dies bot denjenigen, die den Aufwand und das Risiko der Anreise auf sich genommen hatten, mehr Möglichkeiten für den kostbaren Austausches mit den Vortragenden vor Ort, ohne dabei durch die praktischen technischen Schwierigkeiten eingeschränkt zu sein, die ein Austausch mit online-Teilnehmern immer noch mit sich bringt. 

Sofia präsentierte sich in schönstem Herbstkleid

Auch wenn es insgesamt weniger Präsentationen als bei den vergangenen Kongressen gab, boten diese inhaltlich einen akutellen, interessanten und vielfältigen Einblick in die unterschiedlichsten Aspekte der Komplementärwährungs-Forschung (ein Zusammenstellung der Abstracts aller Präsentationen kann hier heruntergeladen werden). Ebenso reichte diese Zahl an Berichten aus, um den Eindruck, dass gemeinschaftsbasierte Komplementärwährungen in letzten Jahren weniger öffentliches Interesse finden (was man im deutschsprachigen Raum durchaus beobachten kann), durch die Zahlen und Entwicklungen aus vielen anderen Ländern zu widerlegen. Um nur ein paar wenige zu nennen: in Frankreich gibt es mittlerweile 82 Initiativen, die den deutschen Regiogeldern ähnlich sind. In Brasilien erfahren derartige Währungen nach wie vor sowohl durch die nationale Sozialpolitik als auch durch Engagement seitens der kommunalen Regierungen Förderung. In den USA und Kanada entwickeln sich auch langjährige Projekte wie Berkshares und Calgary Dollar beständig weiter und, inspiriert von positiven Beispielen aus Ostafrika, betreibt sogar die GIZ (Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit) momentan Modellprojekte mit Komplementärwährungen in Kamerun. 

Eine deutliche Neuerung der vergangenen Jahren schien die größere Verfügbarkeit von Transaktionsdaten und damit korrelierbaren demographischen und soziologischen Erhebungen zu sein. Dies kann durchaus als positiver Effekt der fortschreitenden Digitalisierung und der anderweitig oftmals wenig nachvollziehbaren Begeisterung für digitale Währungen gewertet werden. Zwar verwenden die wenigsten Projekte Blockchain-Protokolle für ihre Transaktionen, aber auch Projekte mit zentralen Datenbanken generieren Daten, die anonymisiert der Wissenschaft zur Verfügung stehen und analysiert werden können. Bisher dominierte dabei noch die Visualisierung und konzeptionelle Modellierung dessen, was sich in Komplementärwährungs-Neztwerken abspielt. Aber Ideen, wie sich daraus Anhaltspunkte für besseres Währungs-Design und Anreize für Nutzer ableiten lassen, klangen bereits in mehreren Arbeiten an. Ebenso ließ sich eine größere Aufmerksamkeit gegenüber Wirksamkeitsstudien und den dazu nötigen Datenerhebung beobachten – ein weiterer Forschungsaspekt, der gegenüber früheren Konferenzen deutlich an Profil und Aufmerksamkeit gewonnen hat. Auch wenn die Wirkung von Komplementärwährungen angesichts großer Herausforderungen wie der Corona-Pandemie und des globalen Klimawandels noch vergleichsweise klein und lokal begrenzt ist, zeichnet sich damit zumindest eine Reifung dieser Art der Geldreform-Bewegung ab, die auf zukünftige Entwicklungen hoffen läßt. 

 

Eröffnungsveranstaltung und Keynote Prof. Nikolay Nenovsky

Wie lang solche ideengeschichtlichen Entwicklungsprozesse brauchen, ließ sich auch an der Auswahl an Keynote-Vorträgen ablesen. Zum einen gab der bulgarische Ökonom und Zentralbanker Prof. Nikolay Nenovsky eine Überblick über die Geschichte der Finanz-Landschaft des Gastgeberlandes und des restlichen Balkans – einer Region in der Fragen von Euro-Beitritt und internationaler Verflechtung noch weitaus lebensnäher scheinen, als solche nach komplementären Währungen. Tatsächlich gibt es momentan in Bulgarien nur eine komplementäre Währungs-Initiative, die ihre Ideen und ersten Aktivitäten am dritten Tag der Konferenz vorstellte. 

Den zweiten Plenumsvortrag hielt Thomas Greco aus den USA, eingeladen wegen seines unermüdliches Engagement für “mutual credit” Systeme, und für viele ein Grundpfeiler des modernen KW-Gedankengutes. Bruno Theret als dritter Redner stellte wiederum einen detaillierten Vergleich zwischen den Wert-Theorien von Pierre-Joseph Proudhons (1809-1865) und John R. Commons (1862-1954) dar, die im 19. Und 20. Jahrhundert maßgeblich zu den Ideen genossenschaftlicher Finanz-Praktiken beigetragen haben und somit ebenfalls als Ahnen der modernen Geldreformbewegung gelten, wenn auch mit anderen Werkzeugen. Susanna Belmonte wiederum gab im letzten Plenumsvortrag mit aktuellen Beispielen aus Spanien und verschiedenen EU-Programmen zum Ausdruck wie komplementäre Wirtschafts- und Geldformen als Keimzellen für Lösungen von größeren gesellschaftlichen Fragestellungen dienen können. 

Dazu passte auch, dass mehrere Forschungsvorträge die Verbindung von komplementären Währungen als Träger und Beförderer eines bedingungslosen oder universellen Grundeinkommens sein können. Auch wenn die Datenlage in diesem Feld noch immer sehr gering – und ihre Interpretation teilweise fragwürdig ist – so zeigt dies zumindest, wie große Herausforderungen und kleinräumige experimentelle Herangehensweisen sich gegenseitig befruchten können. 

Verkaufstand der einzigen kompl. Währung Bulgariens auf einem Sonntagsmarkt in der Stadt

Das Integrieren von einzelnen Fallbeispielen und großen theoretischen Entwürfen war ein weiterer Forschungsstrang, der verschiedene Vorträge verband. So beschäftigten sich zum Beispiel die drei anwesenden Mitglieder des monneta-Expertennetzwerkes, Christian Gelleri, Jens Martignoni und Leander Bindewald, die Teilaspekte ihrer Dissertationen vortrugen, mit dem Zusammenspiel der Praxis komplementärer Währungen und ökonomischer Geldtheorie und wie beide durch einen jeweiligen Perspektivwechsel robuster gestaltet werden können. 

Jens Martignoni wurde außerdem in der RAMICS Mitgliederversammlung am letzten Tag der Konferenz ins Management Komitee von der Forschungsvereinigung gewählt und wird zusätzlich Georgina Gomez nach vielen verdienstvollen Jahren als Chefredakteurin des International Journals of Community Currency Research (IJCCR) ablösen. Wir gratulieren zu beiden Positionen und wünschen alles Gute!

Schließlich wurde die Organisation und Qualität des Zusammenspiels von lokalen und online Teilnehmern von vielen Teilnehmern während und nach der Konferenz gelobt. Und gerade falls die nächste Konferenz in zwei Jahren wieder außerhalb Europas stattfinden sollte (der nächste Veranstaltungsort ist bisher noch nicht beschlossen), kann die Option, Beiträge online vorzutragen, ein inklusiveres Angebot für diejenigen schaffen, die sich eine Reise nicht leisten können oder wollen. Aber gerade nach den vergangenen Jahren der Virtualität hoffen wir, dass bald wieder mehr und mehr der Wert des persönlichen Austausches in den Vordergrund rückt. Auch dafür steht monneta als Netzwerk-Organisation gerade für die Kompetenzträger im deutschsprachigen Raum, und dieses Anliegen bewegte uns auch als Mitorganisatoren des Kongresses in Bulgarien und als einziges institutionelles Mitglied von RAMICS. 

In diesem Sinne hoffen wir, viele unserer Kollegen, Freunde und Leser bald wieder persönlich zu treffen, beim RAMICS Kongress 2024, und vorher bei anderen Veranstaltung von und mit monneta. Mehr dazu in den kommenden Newslettern. 

Sonderausgabe “Monetary Plurality and Crisis” im Journal of Risk and Financial Management (JRFM)

 

Neben dem Engagement in der Umsetzung von innovativen Währungs-Ideen und der fortlaufenden Bildungsarbeit zu Geld und Geldreformen ist es vor allem  die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser zwei Betätigungsfelder, die langfristig einer neuen Geld- und Wirtschaftsordnung den Weg ebnen wird. Gerade im jungen Theorie- und Forschungsfeld von komplementären Währungen wurde die Verknüpfung von Praxis und Wissenschaft  schon früh mitgedacht. So haben sich die internationalen Fachkonferenzen zu diesem Thema schon seit den frühen 2000er Jahren als Forum sowohl für Aktive wie Aktivisten und akademisch Forschenden verstanden. Aus den Zusammenkünften unter der Schirmherrschaft von führenden Universitäten in Frankreich (2011) und den Niederlanden (2013) hat sich schließlich im Jahre 2015, während der nächsten Konferenz in Brasilien, der Forschungsverbund RAMICS gegründet, die “Research Association on Monetary Innovation and Community and Complementary Currency Systems”. Seitdem ist auch das bereits seit 1997 erscheinende Fach-Journal IJCCR unter die Fittiche dieses Verbandes genommen worden.

Jedoch braucht es Zeit, bis sich ein neues Forschungsfeld etabliert, sowohl im wissenschaftlichen Diskurs, als auch in den universitären Fakultäten und dem Bewußtsein von Wissenschaftlern und Studenten. Veröffentlichungen in den eigenen Kreisen helfen dabei zwar, aber die volle Anerkennung im “Mainstream” des wissenschaftlichen Betriebs ist damit nicht zu erreichen. Daher ist es eine große Chance, das leider noch recht unbekannte Thema der monetären Vielfalt in einem konventionellen und breit aufgestellten Wirtschafts-Journal wie dem Journal of Risk and Financial Managements platzieren zu können. Mit der nun abgeschlossenen Sonderausgabe „Monetary Diversity and Crisis“ ist dies gelungen. Dies hat nicht nur etablierte Wissenschaftler motiviert, neue Themen zu betrachten und ihre Gedanken zu Geldtheorie und der Praxis komplementärer Währungen in übersichtlichen Artikeln festzuhalten, sondern gerade auch jungen Autoren wurde damit die Möglichkeit gegeben, die Ergebnisse ihrer Arbeiten zu veröffentlichen.

Damit diese nicht nur für ein Fachpublikum mit Zugang zu institutionellen Bibliotheken einsehbar sind, ist es von besonderem Wert, dass dieses Journal nach dem “open access” Prinzip arbeitet. Dies bedeutet, dass jeder Artikel von jedem jederzeit vollständig einsehbar und kostenlos herunterladbar ist. Da bei einem solchen Vorgehen die rückwirkende Finanzierung der Verlage über Abonnements und “pay per view”-Gebühren wegfällt, ist es üblich, dass der redaktionelle Aufwand und die Veröffentlichung vorab pro Artikel bezahlt wird. Leider ist auch dies für junge und unabhängige Wissenschaftler und selbst für viele wissenschaftliche Institutionen außerhalb der Industrienationen eine oft unüberwindliche finanzielle Hürde. Deshalb war es ein Glücksfall, dass wir neben dem Interesse des Journals auch noch die finanzielle Unterstützung der Organisationen des Redaktions-Teams dieser Sonderausgabe gewinnen konnten. Die Finanzierung des Großteils der Verlagsgebühren durch die Arbeitsgruppe von Prof. Georgina Gomez an der Universität Rotterdam und monneta hat es allen Autoren, die das strenge wissenschaftliche Review-Verfahren des Journals bestanden hatten, ermöglicht, ihre Arbeiten zu veröffentlichen.

Die meisten der nun erschienen Artikel beschäftigen sich mit den wirtschaftlichen Vorteilen von monetärer Vielfalt. Diese werden zum einen aus theoretischer, makroökonomischer Sicht beleuchtet (siehe dazu die Artikel von Simmons et al. und Kuypers et al.), als auch anhand von praktischen lokalen Beispielen untersucht – gestützt auf die Daten etablierter Komplementärwährungen wie dem REC in Barcelona (siehe Martín Belmonte et al.), dem Sardex in Italien (siehe Fleischmann et al. und Simmons et al.), dem Chiemgauer in Süddeutschland (Zeller) und Sarafu in Kenya (Ussher et al. und Zeller).

Auch historische Beispiele mit paralellen Währungen werden untersucht (siehe Kokabian und Sotiropoulou), sowie weniger bekannte monetäre Praktiken wie das „obligation clearing“ in Slovenien (siehe Fleischmann et al.). Und über die wirtschaftlichen Vorteile von kompelentären Währungsformen hinaus, werden von anderen Artikeln auch grundsätzlichere Probleme beleuchtet, wie die rechtliche Definition von „Geld“ und „Währung“ als Grundlage für eine nachhaltige und gerechtere Geldordnung (siehe Bindewald), die Effekte profit-orientierter Kreditgeldschöpfung auf die Stabilität des Finanzsystems (siehe Kuypers et al.), und den Einfluss von ökonomischer Ungleichheit auf die Verbreitung von Innovationen und die Bedeutung von Bargeld (siehe Srouji).

Gemeinsam scheint dabei allen Arbeiten, dass die behandelten Forschungsfragen stets in Sorge um soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit gestellt sind. Sowohl die wissenschaftliche Analyse als auch die untersuchten monetären Innovationen werden dabei nicht allein nach ihrer mikro- oder markoökonimischen Effizienz bewertet, sondern vielmehr in den Dienst für eine zukunftsfähige Welt gestellt. Deshalb wünschen wir allen Artikeln nicht nur viele Leser, sondern auch vielfache Wirkung.

 

Hier die Titel und Links zu den einzelnen Artikeln der Sonderausgabe. Einen Link, um alle Artikel zusammen als zip-Datei herunter zu laden, gibt es auf der Webseite der Sonderausgabe:

 

Bindewald, L.
Inconsistent Definitions of Money and Currency in Financial Legislation as a Threat to Innovation and Sustainability. https://www.mdpi.com/1911-8074/14/2/55

 

Fleischman, T.; Dini, P.; Littera, G.
Liquidity-Saving through Obligation-Clearing and Mutual Credit: An Effective Monetary Innovation for SMEs in Times of Crisis. https://www.mdpi.com/1911-8074/13/12/295

 

Martín Belmonte, S.; Puig, J.; Roca, M.; Segura, M.
Crisis Mitigation through Cash Assistance to Increase Local Consumption Levels—A Case Study of a Bimonetary System in Barcelona. https://www.mdpi.com/1911-8074/14/9/430

 

Kokabian, P.
Black Currency of Middle Ages and Case for Complementary Currency.
https://www.mdpi.com/1911-8074/13/6/114

 

Kuypers, S.; Goorden, T.; Delepierre, B.
Computational Analysis of the Properties of Post-Keynesian Endogenous Money Systems.
https://www.mdpi.com/1911-8074/14/7/335

 

Simmons, R.; Dini, P.; Culkin, N.; Littera, G.
Crisis and the Role of Money in the Real and Financial Economies—An Innovative Approach to Monetary Stimulus. https://www.mdpi.com/1911-8074/14/3/129

 

Sotiropoulou, I.
Persistent Food Shortages in Venetian Crete: A First Hypothesis.
https://www.mdpi.com/1911-8074/14/4/151

 

Srouji, J.
Digital Payments, the Cashless Economy, and Financial Inclusion in the United Arab Emirates: Everyone Still Transacting in Cash? https://www.mdpi.com/1911-8074/13/11/260

 

Ussher, L.; Ebert, L.; Gómez, G.; Ruddick, W.
Complementary Currencies for Humanitarian Aid.
https://www.mdpi.com/1911-8074/14/11/557

 

Zeller, S.
Economic Advantages of Community Currencies.
https://www.mdpi.com/1911-8074/13/11/271

 

 

[Der Autor dieses Artikels ist auch Co-Redakteur der beschriebenen Sonderausgabe, in der außerdem ein Artikel über die Ergebnisse seiner Doktorarbeit erschienen ist.]

 

Ab November 2018 trafen sich 18 VertreterInnen verschiedener deutscher Geldreform-Organisationen in Berlin, um ihre Gemeinsamkeiten auszuloten, Synergien zu suchen und so einen systemischen Wandel wirkungsvoller voranbringen zu können. Angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie fand sich im Frühjahr 2020 aus diesem Kreis eine Gruppe von Akteuren zum „Forum Geldwende“ zusammen, das mit einem Katalog gemeinsamer Forderungen an die Politik und Öffentlichkeit herantreten will, um so aus der Krise eine Chance für nachhaltige, systemische Veränderungen zu machen.

 

Anlässlich des 4. GLS-Geldgipfels 2021 entstand das nun veröffentlichte Positionspapier als eine Zwischenbilanz dieser Bemühungen. Die hier dargestellten Ziele sind den Autoren der Organisationen INITIATIVE FÜR NATÜRLICHE WIRTSCHAFTSORDNUNG e.V., MONNETA gGMBH, MODERN MONETARY THEORY DEUTSCHLAND , und CHIEMGAUER e.V. gemeinsam; die 10 Forderungen im letzten Teil der Veröffentlichung werden von allen mitgetragen, auch wenn die einzelnen Akteure unterschiedliche Priorisierungen und jeweils auch weitere, hier nicht dargestellte Reformvorschläge haben. Dazu bitten wir, die Autoren der einzelnen Forderungen anzusprechen, bzw. auf ihre oben verlinkten Webseiten und Veröffentlichungen zurückzugreifen.

Das zwölfseitige Papier kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Regiogeld: Stand der Dinge 2020

Regiogelder versuchen, regionale Wirtschaftskreisläufe zu stimulieren und regionale Wertschöpfungsketten zu knüpfen, indem neue Zahlungsmittel für Regionen bereitgestellt werden. Zahlreiche Experimente haben zahlreiche Erfahrungen entstehen lassen.

Den Regiogeldern fehlen aber weiterhin relevante Aspekte ihres Tuns:

  • tragfähige Geschäftsmodelle, die die Aufwände zur Organisation des Regiogeldes abdecken
  • eine technische Infrastruktur, die den digitalen Gewohnheiten der 2020er Jahre angemessen ist
  • eine Durchdringung in der Unternehmerschaft und bei privaten Haushalten, die das Erreichen kritischer Dichte und kritischer Masse ermöglicht

Regiogeld mit regionalen Investitionen verknüpfen

Aus der oben beschriebenen Ausgangslage entstand beim Elbtaler eine Idee für eine Weiterentwicklung des Regiogeld-Systems. Diese Idee verknüpft die Möglichkeit zur Investition in regionale Unternehmen mit den Fähigkeiten umlaufenden Regiogeldes.

Hinter dieser Idee stehen folgende Überlegungen und Beobachtungen:

  • zahlreiche Menschen suchen in einem Niedrigzins-Umfeld nach Wegen, ihr Geld angemessen zu investieren
  • es mangelt an guten Investitionswegen in regionale Unternehmen für Kleininvestoren
  • die Kooperation zwischen Elbtaler e.V. und der Energiegenossenschaft egNEOS eG zeigt, dass Euro-Investitionen in Energieprojekte in Form von Regiogeld verzinst werden können. Dabei fungiert die Energiegenossenschaft als Investitionssammler einerseits und als Regiogeld-Nachfrager im Elbtaler-System andererseits, um ihren Zinszahlungen nachkommen zu können. Dies stimuliert das Regiogeld-System, weil der zinszahlende Investor eine regelmäßige Nachfrage nach Regiogeld hat.
  • Erfahrungen mit Investitionen in regionale Unternehmen gibt es bereits im Umfeld der RegionalWert AG und ihrer Schwestern.

Daher entstand die Idee,

  • eine Investitionsgesellschaft zu gründen,
  • die Geld von Bürger*innen einsammelt und in regionale Unternehmen investiert.
  • Resultierenden Zinszahlungen könnten dann in Regiogeld statt Euro ausgeschüttet werden,
  • um von den Bürgerinvestoren bei den teilnehmenden Unternehmen ausgegeben werden.

Organisiert werden muss sowas idealerweise über ein digitales System, um die Aufwände gering und die Skalierbarkeit hoch zu halten.

Die Vorteile sind zahlreich:

  • dieser Ansatz spricht nicht nur Leute an, die nachhaltig wirtschaften wollen, sondern auch Menschen, die schlicht nach Investitionsmöglichkeiten für ihre Ersparnisse suchen. Somit verbreitert sich die Basis der Teilnehmenden.
  • Regionale Unternehmen haben regelmäßig Bedarf an Investitionsmitteln, die sie bislang oft nur aus etablierten Finanzkanälen wie Banken bekommen. Ein Weg der Bürgerfinanzierung bietet einen weiteren Finanzierungskanal für diese Unternehmen und damit eine Integrationsmöglichkeit in ein regionales Netzwerk.
  • Die Ausschüttung der Rendite in Regiogeld ist kein Muss. Passiert sie aber in Regiogeld, so wird die Kaufkraft lokal gebunden und die Regiogeld-Effekte treten zutage.
  • Die Nachfrage nach Regiogeld in solch einem System ist dadurch dauerhaft gegeben, weil die finanzierten Unternehmen ihren Zinspflichten nachkommen müssen. Dadurch entsteht ein Eigeninteresse bei diesen, die eigenen Produkte und Dienstleistungen auch gegen Regiogeld zu verkaufen, weil es einen garantierten Abnahmekanal für die Regiogeld-Erlöse gibt: die Zinszahlungen. Dadurch ist eine Art „monetäre Umwälzpumpe“ in das Gesamtsystem integriert, etwas was Regiogeldern bislang oft fehlt.1

 

Ein digitales System: Investitionsplattform, Kontensystem, Smartphone-App

Das oben beschriebene System kann nur mit angemessener digitaler Unterstützung halbwegs aufwandsarm aufgesetzt und administriert werden. Zudem erwarten Haushalte und Unternehmer*innen heute eine Abbildung solcher Dienste auch in digitaler Form, da sie die Nutzung von Online-Banking und Zahlungen bereits häufig digital durchführen. Ein ganzheitlich einsetzbares System würde daher aus mindestens drei integrierten Modulen bestehen, die ineinander greifen:

  • ein Online-Marktplatz für Investitionen, in die Unternehmen ihre Investment-Angebote einstellen und Bürgerinvestoren Geld in diese Angebote stecken können, sowie ihre Investments verwalten können.
  • Ein Kontensystem würde das Empfangen von Zinszahlungen für Investoren, aber auch das Entgegennehmen von Erlösen in Regiogeld bei Unternehmern oder Mitarbeitenden erlauben.
  • Eine Smartphone-App würde mobil Zahlungsvorgänge innerhalb dieses Kontensystems ermöglichen, wie das der moderne Nutzer erwarten würde.

Die folgende Grafik zeigt das Zusammenspiel zwischen Unternehmern und Investoren, sowie den Einsatz des digitalen Systems und das Zusammenspiel seiner Module:

Dabei wird sichtbar, dass das digitale System sowohl Funktionen für die Administratoren, als auch solche für Unternehmen und Investoren bereitstellt. Es erleichtert den Umgang mit der Plattform und erlaubt den reibungslosen und aufwandsarmen Ablauf der Vorgänge durch diverse Unterstützungsfunktionen.

Erweitert könnte solch ein System auf dezentralen Datenbanken wie Blockchain aufgesetzt und um dort mögliche Funktionen wie SmartContracts erweitert werden, um das integrierte Finanzsystem für neuere Entwicklungen vorzubereiten und offen für andere Plattformen zu machen. Auf der dezentralen Datenbank könnten Assets verwaltet werden und handelbar gemacht werden, wie z.B. Unternehmensanteile oder Darlehensverträge oder auch die „Coins“ des Regiogeldes.

Strategie: Vorgehen zur Realisierung

Um solch ein System zu erproben braucht es folgende Bausteine:

  • mindestens eine, besser mehrere Regiogeld-Initiativen, die solch einen Ansatz erproben wollen
  • die Gründung einer oder mehrerer regionaler Investitionsgesellschaften, die als Träger fungieren
  • ein Wissenstransfer zwischen bestehenden Erfahrungsträgern für die Etablierung und Administration von Regiogeld, sowie für die Kalkulation und Umsetzung von Investitionen in regionale Unternehmen sowie für die (Re-)Finanzierung von Bürgerinvestitionen
  • Entwurf, Entwicklung und Erprobung des skizzierten digitalen Systems
  • exemplarische Umsetzung des Verfahrens in den teilnehmenden Initiativen/Regionen sowie reflektierend-beobachtend-beratende wissenschaftliche Begleitung

Zur Realisierung könnte ein überregionales Forschungs- und Umsetzungskonsortium gebildet werden, welches das Vorhaben als Forschungs- und Entwicklungsprojekt positioniert und entsprechende Mittel bei Ausschreibungen einwirbt. Beispielhaft könnte die FONA-Initiative des BMBF oder Förderungen des BMWi oder Förderungen im Bereich Klimaschutz des BMU genutzt werden, was jeweils ein leicht anderes Framing des Gesamtvorhabens erfordern würde.

Expertise in der Software-Entwicklung sowie Verbindungen zu Blockchain-Entwicklern liegen beispielsweise beim Elbtaler e.V. vor.


Der Autor

Norbert Rost arbeitet seit 2001 an konstruktiven Verbesserungen des Finanzsystems, hat 2005 den Elbtaler mitgegründet und für diesen die Regiogeld-Software „RegionalAtlas“ mitentwickelt. www.zukunftsstadt.de

 

Wir haben sie miterlebt diese erstaunliche Zeitenwende. Plötzlich bewirkt ein Virus, dass Gesundheit sogar auf den Regierungsebenen wichtiger wird als die Wirtschaft. Plötzlich haben wir Zeit und sind allein in unseren vier Wänden mit der Frage: Was will ich mit meiner Zeit anstellen? Wie möchte ich sie am liebsten verbringen? Wenn die wirtschaftliche Unsicherheit nicht wäre, dann hätte das etwas Befreiendes. Ich kann über meine Zeit bestimmen. Keine Fahrten zur Arbeit im Berufsverkehr. Kein Zeitdruck durch den Terminkalender. Keine Anpassung an Arbeitsplatzkonventionen. Statt dessen wird der Freundeskreis und die Nachbarschaft wichtiger – wenn auch eingeschränkt durch die Distanz-Regeln. Wer kann Haare schneiden, wenn der Friseur zu hat? Wer pflegt die Kranken zuhause, wenn die Krankenhäuser überlastet sind und Besuche riskant? Wer hilft den älteren Menschen mit Einkäufen?

Die Coronakrise hat uns gelehrt, wie wichtig die Pflege als Grundlage unserer Gesellschaft ist. In Familien ist das meist so selbstverständlich, dass die Sorge für Kinder und deren Erziehung kaum als Arbeit angesehen wird. Eltern schenken ihren Kindern viel Zeit – ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das kann man auch Schenk-Ökonomie nennen. In jedem Fall ist es eine Basis unserer Gesellschaft, die Anerkennung verdient, denn ohne diese geschenkte Zeit würde es keine Menschen geben, die wirtschaften. Statt dessen gehören die Eltern, die während des Corona-Shutdowns zu Hause gearbeitet haben, zu den am meisten Benachteiligten, denn sie waren mit der Kinderbetreuung „nebenbei“ allein und selbstverständlich überfordert. Ihre Erfahrungen zeigen: „Home Office“ und „Home Schooling“ gehen nicht gleichzeitig. Wieviel Glück hatten diejenigen, die Großeltern um Hilfe bitten konnten, die einen Garten haben. Wenn sogar die Kinderspielplätze geschlossen werden, dann verstärkt das die soziale Ungleichheit.

Die Coroanakrise hat uns unter anderem so hart getroffen, weil die Pflege im Gesundheitswesen viel zu schlecht bezahlt wird. Und weil sich die Arbeitsbedingungen unter dem Diktat der „Wirtschaftlichkeit“ durch Sparmaßnahmen jahrzehntelang verschlechtert haben. Die Pflege braucht in allen Beziehungen mehr Wertschätzung und bessere Bedingungen – für Kinder, Ältere und Kranke – also für uns alle.

Eine gute Möglichkeit den Austausch in Städten, Gemeinden und der Nachbarschaft zu verbessern bieten sogenannte Zeit-Tausch-Systeme. Bei ihnen wird auf Basis ehrenamtlicher Arbeitsstunden getauscht. Eine Stunde von mir ist gleich eine Stunde von dir. Jeder kann ehrenamtliche Arbeitsstunden geben und wir alle brauchen Menschen, die uns helfen – nicht nur im Krankheitsfall. In Zeit-Tausch-Systemen können ehrenamtliche Arbeiten wie Hausaufgabenhilfe, Kranken- und Altenpflege, Fahrdienste, Reparaturleistungen, Kochen und Kinderbetreuung sichtbar gemacht und belohnt werden – völlig unabhängig von der monetarisierten Wirtschaft. Und der zunehmende Austausch von Zeitgutscheinen zeigt, dass die Gemeinschaft genauso wächst wie das Vertrauen unter den Menschen. Letztendlich geht es den Teilnehmern um ein besseres Miteinander.

 

Copyright: thomasplassmann.de

Selbstverständlich hätte ich die vielen Hundert ehrenamtlichen Arbeitsstunden an den Schulen meiner Kinder sowieso geleistet. Aber die Möglichkeit einer Extra-Anerkennung durch Gutschriften auf einem Zeitsparkonto wäre ein noch größerer Gewinn, wenn ich sie später, wenn ich alt bin, einlösen könnte gegen Hilfe z. B. beim Einkaufen oder bei Arztbesuchen. Und es würde leichter fallen um Hilfe zu bitten, denn ich habe sie „verdient“.

Wer glaubt, die Coronakrise war die letzte Krise? Wahrscheinlich stehen wir erst am Anfang einer längeren Wirtschaftskrise, die uns noch viele Abstürze bescheren wird. Die Coronakrise sollte uns bewusst machen, dass nicht Euro, Gold und Bitcoins das Wichtigste sind, sondern Freunde, Familie und ein starkes Netzwerk.

Beim Zeit-Tausch geht es nicht um die Ökonomisierung des Ehrenamtes oder darum unsere kostbare Zeit auch noch zu verrechnen. Nein, es geht um einen besseren Austausch, um persönliche Beziehungen und gemeinsam besser für die Mitmenschen zu sorgen. Denn beim Zeit-Wohlstand geht es um Qualität – nicht um Quantität und nicht um finanzielles Wachstum. Ein Gewinn für alle – ohne jegliche Rendite.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt um solche Tausch-Systeme zu starten, um staatliche Programme zu fordern und den entsprechenden Datenschutz. Denn das fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Gemeinschaftsbildung, die in Corona-Zeiten mit den Auflagen von sozialer Distanz und Kontaktbeschränkungen nur schwer zu erreichen sind. Tauschsysteme können das große Potential der Hilfs- und Kooperationsbereitschaft in der Bevölkerung verstetigen, unterstützen und für die Zukunft ausbauen. Für mehr Mitmenschlichkeit. Zeit wird mehr wert, wenn man sie teilt. Und Zeit-Tausch-Systeme zeigen uns, dass die Zeit eigentlich viel wichtiger ist als das Geld. Nutzen wir unsere Zeit also gemeinsam besser!

 

Mehr Informationen über Zeit-Tausch-Systeme und Anwendungsbeispiele auf unserer Webseite:

 

Vertiefungsartikel zu Tauschringen und Zeitbanken (Teil unserer Onlinekurse).

Monneta-Experte Tobias Plettenbacher hat das Zeit-Tausch-System „WIR GEMEINSAM“ entwickelt. Neue Gruppen sind herzlich willkommen!

Informationen zu einen System in Deutschland finden sich zum Beispiel auf der Webseite der Zeitbörse Königsbrunn.

Artikel zum Thema Timebanking auf unserer englischen Webseite (CCIA 2015).

 

 

“Du sagtest neulich am Telefon: Gib mir ein Problem und ich entwickele Dir eine komplementäre Währung mit der Du es lösen kannst. Und ich muss es Dir einmal sagen: Deine Fantasie, Deine unerschöpflichen Ideen, wie man Geld gestalten, erfinden, verwandeln kann, versetzt mich einfach immer wieder in Staunen.”
Margrit Kennedy in einem Brief an ihren langjährigen Arbeitskollegen und Freund Bernard Lietaer

 

 

Rezension zu
Peter Krause: Bernard Lietaer – Leben und Werk
(Berlin: epubli, 2020. Band I: 408 Seiten, Band II: 252 Seiten)

Am vierten Februar des vergangenen Jahres verstarb Bernard Lietaer. Vielen, die sich mit neuen Wirtschafts- und Geldformen beschäftigen, ist damit ein Leuchtturm richtungsweisenden Denkens und ein Referenzpunkt von internationalem Rang verloschen.

Wie kein Anderer hat Lietaer einen Weg durch alle Bereiche der Finanzwirtschaft durchlaufen – vom gekürten Harvard Absolventen des Jahres 1969, zum Zentralbanker in den frühen 80er Jahren, zum erfolgreichsten Hedgefond-Manager des Jahres 1989 – um schließlich zu einem der schärfsten Systemkritiker und gleichzeitig einem der kreativsten Visionäre einer neuen, sozial-ökologischen Geldordnung zu werden.  Dass sich Lietaers Expertise und Ansehen jedoch nicht allein auf die Kreise von Finanzwelt und -reform beschränkte, war nur wenigen bewusst.

Die nun erschienene Biographie von Peter Krause ist die erste Veröffentlichung, für die Lietaer explizit Einblicke in alle Bereiche seines Lebens und Wirkens zuließ. Aus zwei persönlichen Gesprächen während der letzten Lebenswochen Lietaers und unzähligen Interviews mit Freunden, Kollegen und Familienmitgliedern, sowie den Materialien aus dem Nachlass – teilweise zusammengetragen und eingeschickt aus allen Teilen der Welt – hat Peter Krause das Gesamt-Bildnis eines bemerkenswerten Mannes zusammengesetzt. Dabei fügen sich nun die Themen, für die Lietaer bereits weitläufig bekannt war, in ein weites Spektrum von Erleben, Denken und Wirken, über dessen Fülle und Tiefe Lietaer bisher nur andeutungsweise und zu engen Freunden redete, oder unter seinem Pseudonym (René de Bartiral) publizierte.

In teilweise sachlicher und teilweise poetischer Sprache spiegeln die zwei Bänden dieser binnen eines Jahres entstandene Biographie die Faszination des Autors über die von ihm beschriebenen Person wieder, und eröffnen damit wie durch ein rückblickendes Prisma den Blick auf ein außergewöhnliches und mutiges Leben in seinem ganzen Facettenreichtum.

Der erste Band, der auch einzeln zu beziehen ist, stellt dabei die eigentliche Biographie dar. Sie ist durch einen zweiten Band, der wie ein Anhang voller Kleinodien wirkt, ergänzt. Es mag überraschen, das es um das Leben Lietaers in chronologischer Reihenfolge nur in rund einem Viertel des Textes geht. Dieser ist jedoch durch die Informationen aus Interviews und Archivmaterialien mit erstaunlich vielen persönlichen Details anschaulich und lebensnah ausgeschmückt. So entsteht die intime Beschreibung eines persönlichen und professionellen Werdegangs – von der Jugend in Belgien, über das Studium und die Karriere vor allem in Nord- und Süd-Amerika, bis zu den letzten Lebensmonaten in Norddeutschland -, der immer wieder mit erstaunlichen Wendungen und Weitungen aufwartet.

Die übrigen drei Teile des ersten Bandes resümieren danach das Werk Lietaers unter den Überschriften “Wissen”, “Weisheit” und “Mysterium”. So vervollständigen sie, Schicht um Schicht, ein Bild Lietaers, wie es bisher in der Öffentlichkeit nicht wahrnehmbar war.

Im Teil “Wissen” wird anhand seiner Früh- und Hauptwerke der Werdegang Lietaers in die Tiefen der Finanzwirtschaft und weiter zu seiner Rolle als Vorreiter einer neuen Geldordnung nachgezeichnet. Auch für diejenigen, die einen Teil seiner Werke bereits selber gelesen haben, zeigen sich dabei Zusammenhänge und Entwicklungsschritte auf, die ein wiederholtes Studium lohnen.

Im Teil „Weisheit“ werden die psychologischen und geschichtlichen Ansätzen, die Lietaer bereits in manchen seiner Veröffentlichungen anklingen ließ (wie z.B. in Mysterium Geld, 2000, Riemann), sowohl durch biographische als auch weltanschauliche Hintergründe eingeführt und verknüpft. Dabei geht es unter anderem um Philosophie, die Archtypen-Lehre Gustav Jungs und den historischen Wechseln von matrifokalen zu patriachalen Gesellschaften. Der Zukunft ist hierbei ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem die verschiedenen utopischen und dystopischen Szenarien, die Lietaer in seinen Schriften entwickelt hat, zusammengetragen sind.

Den erstaunlichsten Einblick zur Person Bernard Lietaer liefert der letzte Teil des ersten Bandes, “Mysterien”. Ausgehend von den kaum bekannten Arbeiten Lietaers zum Werk Rembrandts wird in diesem Kapitel eine Vielzahl von Themen, Beschäftigungsfeldern und Einflüssen erläutert, die für Lietaer allesamt von zentraler Bedeutung waren, aber in seinem bisher veröffentlichten Werk weitgehend ausgespart blieben. Dabei geht es ebenso um Kunst und Architektur, als auch um Freimaurerei, Spiritualität, Metaphysik und Persönlichkeitsentwicklung. Bemerkenswert ist dabei auch die Tiefe des hier bereitgestellten Wissens, das zuvor meist als “esoterisch”, also geheim und exklusiv, galt und auch so behandelt wurde. In dieser Zuwendung zur (wenigstens posthumen) Transparenz scheint Lietaer heute nicht allein zu stehen (siehe z.B. W.H.Heussinger: Freimaurer (2020) Finanzbuch Verlag).

Der zweite Band bietet vor allem bildliches Begleitmaterial, das den Text des ersten Bandes untermalt und greifbar macht, vor allem dort wo es um Kunst, Architektur und esoterisches Wissen geht. Er beinhaltet eine große Zahl an Fotos – von Lietaer und den Objekten seines Interesses – sowie Zeichnungen, Handschriften und Grafiken aus seiner eigenen Hand. Die Wirkung dieses Bildmaterials ist für den Gesamteindruck sowohl der Person Bernard Lietaers als auch dieser Biographie nicht zu unterschätzen.

In der zweiten Hälfte dieses Begleitbandes befinden sich Texte, durch die Lietaer noch einmal selber, direkt oder indirekt, zu Wort kommt. So sind hier zwei Interviews mit Tesa Silvestre aus dem Jahre 2008 enthalten, auf die Lietaer selbst als gelungene Zusammenfassungen sowohl seiner geldreformerischen Beiträge, als auch seiner persönlichen, spirituellen Überzeugungen wiederholt hingewiesen hatte (letzteres bisher unveröffentlicht). Auch ist hier, zum ersten Mal in deutscher Sprache, die archäologisch-anthropologische Studie einer Tempelanlage in Peru zu finden, für die Lietaer 1982 zum ersten mal sein Pseudonym gebrauchte. Und schließlich wird hier Lietaers Master-Arbeit zum Management von Wechselkursrisiken, auf die sich sein frühes internationales Ansehen und sein beruflicher Erfolg aufbauten, detailliert aber in nachvollziehbarer Sprache rezensiert.

Der Autor lässt seinen Text mit Worten von Bernard Lietaer enden, die, 2008 unter dem Namen René de Bartiral veröffentlicht, heute in der zweiten Hälfte von 2020 nur wieder an Aktualität gewonnen haben – und damit auch die Anerkennung und das Andenken an das Leben und Werk Bernard Lietaers weiter tragen: «Meiner Meinung nach sind wir an einem entscheidenden Punkt, und nur einen Schritt vom ‘Bruch’ entfernt; am Rande des Chaos einer großen Veränderung. Dies beinhaltet die Wahl zwischen dem, was die Engländer so einleuchtend „brich auf oder breche zusammen“ nennen – entweder brechen wir zu einer neuen Komplexitätsstufe durch oder wir kollabieren nach unten auf eine niedrigere Ebene.»(S. 372)

Die Beschreibung des bemerkenswerten Beitrags eines einzelnen Mannes zur positiven Weiterführung des menschlichen Weges auf diesem Planeten findet sich in dieser Biographie.

 

[Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift für Sozialökonomie, am 17.08.202]

 

Für diejenigen, die sich an Margrit Kennedy erinnern, gibt es gute Nachrichten: Die Biografie, der 2013 verstorbenen Gründerin von monneta ist im oekom Verlag erschienen!

 

 

Der Autor Peter Krause hat die verschiedenen Etappen dieses reichen Lebens durchgehend recherchiert und konnte viele ausführliche autobiografische Aufzeichnungen verwenden. So portraitiert das Buch die hochbegabte und vielseitige Frau erstmals in einer anschaulichen Übersicht: Sie war nicht nur Architektin, sondern auch Ökologin, Frauenrechtlerin und weitsichtige Vorkämpferin für komplementäre Währungen. Das Engagement der bekannten „Geldexpertin“ speißte sich Zeit ihres Lebens aus ihrem Sinn für soziale Gerechtigkeit und machte sie so zu einer der überzeugendsten Persönlichkeiten der Ökologiebewegung des 20. Jahrhunderts.

 

Das Buch ist online beim oekom Verlag oder im regionalen Buchhandel erhältlich. Eine Übersetzung in englischer Sprache ist in Vorbereitung.

 

RAMICS, die Forschungsgesellschaft für Komplementärwährungen und monetäre Innovationen, wurde vor vier Jahren während einer wissenschaftlichen Konferenz in Brasilien gegründet (wir berichteten). Seither haben die Mitglieder des Direktoriums abwechselnd jeweils eine der folgenden internationalen Konferenzen, die 2011 in Lyon begann, ausgerichtet. Mit dem Kongress in Takayama, Japan, der vom 11. bis zum 15. September diesen Jahres stattfand, kam die internationale Gemeinschaft derjenigen, die an Komplementärwährungen (KW) forschen zum nunmehr fünften Mal im Zweijahres-Rhythmus zusammen.

Wie auch schon zuvor in Frankreich, Holland, Brasilien und Spanien, zeichnet sich diese akademische Konferenz dadurch aus, dass explizit auch Komplementärwährungs-Initiativen und “Praktizierende” eingeladen werden, um den engeren Austausch zwischen Theorie und Praxis zu fördern.

In Takayama war dies vom ersten Moment an zu spüren, da jeder Teilnehmer gleich zwei lokale Währungen überreicht bekam, mit denen an hunderten Stellen in der Stadt eingekauft werden konnte. Die zwei Währungen in Takayama sind der “Enepo” und die “Sarubobo Coin”, und in ihrer Unterschiedlichkeit repräsentieren sie die heutigen Trends in der Vielfalt komplementärer Währungen in Japan. Der Enepo kursiert ausschließlich als Billette, die aus lokalem Zedernholz geschnitten sind, jeder im Gegenwert von rund 5 Euro. Die Sarubobo Coin hingegen kann nur in elektronischer Form von Smartphone zu Smartphone genutzt werden. Dabei ist beiden gemeinsam, dass sie mit nationaler Währung hinterlegt sind und Geschäfte, welche die Währungen akzeptieren, sie auch wieder gegen Yen eintauschen können.

Auch wenn das rasante Wachstum verschiedener KW-Systeme in Japan in den 1980er und 90er Jahren1 sich ab der Jahrtausendwende nicht fortsetzte2, so ist doch immerhin ein Fünftel der in den vergangen 20 Jahren gegründeten Währungen noch im Umlauf.3 Heute gibt es in Japan neben einigen hundert Tauschkreisen (Fureai Kippu)4 ca 200 lokale Währungen, vor allem mit sozialen und umweltbezogenen Motivationen und solche, die neue elektronische Transaktionsmedien nutzen.5 Diese zwei Merkmale spiegeln sich auch im Enepo und der Sarubobo Coin wieder:

 

Der Enepo wird von einer lokalen Forst-Initiative herausgegeben, die sich darum bemüht, den lokalen Wald zu erhalten. Die Forst-Initiative ist Teil einer Freiwilligenorganisation, die Rentner*innen motiviert, sich in die Gemeinwesenarbeit einzubringen. Im Waldprojekt treffen sich die Freiwilligen zweimal pro Woche, um aufzuforsten, zu dichten Wald auszudünnen und Überschüsse zu vermarkten.6 Für eine Arbeitseinheit von etwa 5 Stunden werden 500 Enepo vergütet. Die Scheine können in regionalen Geschäften ausgegeben werden. Die Geschäfte können Enepo bei der Hida-Kreditgenossenschaft einzahlen und erhalten Yen rückvergütet. Das 2019 gestartete System kommt auch bei anderen Gemeinwesenarbeiten zum Einsatz (Kinderbetreuung, Säuberungsaktionen). Ähnliche Währungen, die im Rahmen der Konferenz präsentiert wurden, gibt es in Tokio (Bunshi) oder in Kawasaki (Tama).

 

Sehr viel größer als die “Bargeld-Variante” ist der Sarubobo Coin, der von der Hida-Kreditgenossenschaft emittiert wird. Es handelt sich um digitales Regionalgeld, das zentral auf Konten gebucht wird. Ausgelöst werden die Transaktionen durch Smartphones. Die über 1.500 Akzeptanzstellen benötigen lediglich ein Konto bei der Kreditgenossenschaft und ein Akzeptanzschild mit einem individuellen QR-Code. Die Käufer*innen geben den Zahlbetrag in die App ein und zeigen der Akzeptanzstelle auf dem Handy den erfolgreich gebuchten Betrag. Die Gutschrift erfolgt auf dem Sarubobo Coin – Konto der Akzeptanzstelle. Seit Dezember 2017 haben sich über 8.000 Bürger*innen aus der Region beteiligt. Mehr als 80 Mio. Yen werden jeden Monat getauscht. Damit ist der Sarubobo Coin aktuell die größte Regionalwährung in Japan und kann sich neben den vielen neuen kommerziellen Zahlungsoption, die neben Cash und Karte an fast jeder Kasse angeboten werden, behaupten.

 

Auch im Vergleich zu anderen Regiogeld-Initiativen ist die Größe und Professionalität beachtlich. Es werden sogar Geldautomaten eingesetzt, mit denen die Guthaben in Sarubobo Coins mit Bargeld aufgeladen werden können. Verbesserungsbedarf sehen die Initiatoren bei den regionalen Wirtschaftskreisläufen, da noch viele Unternehmen die Regionalwährung relativ schnell wieder in Yen zurücktauschen. Beim Design einer Regionalwährung in Japan vergehen oft Jahre bis zur Erstemission. Andere Initiativen wie zum Beispiel das Chiemgauer Regionalgeld wurden intensiv studiert, bevor die eigenen Währungsdesigns auf den Weg gebracht wurden. Dieses wechselseitige globale Lernen im fernen Japan live zu erleben, gehört zu den eindrücklichsten Erlebnissen der Japan-Reise. Sehr beeindruckend ist auch die wissenschaftliche Begleitung der Währungsinitiativen. Zu den führenden Akademikern gehört Prof. Nishibe der an seiner Universität ein “Good Money Lab” eingerichtet hat und nicht nur Komplementärwährungen in Japan untersucht, sondern auch aktiv neue nach Best-Practice-Ansätzen entwickelt. Prof. Nishibe war auch der “Spiritus Rector” dieser fünften Ramics-Konferenz.

 

Wie schon bei der Konferenz in Brasilien vor 4 Jahren, waren wegen den erheblichen Reisekosten auch dieses Mal weniger (europäische) Wissenschaftler anwesend als zu den Konferenzen in Europa. Trotzdem waren wieder 26 verschiedene Länder repräsentiert. Bemerkenswert war dieses Jahr, wie mehr und mehr konventionelle, auch quantitative Methoden aus den Wirtschaftswissenschaften auf die Praxis der Komplementärwährungen angewendet wurden. Damit scheint der interdisziplinäre Mix, der die wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich von jeher ausgezeichnete, auch wieder Anschluss an die Fakultäten zu gewinnen, von denen man sich intuitiv mehr Forschung zu Geldsystemen wünschen würde. Dieser Eindruck wurde zum einen dadurch auch untermauert, dass parallel zur RAMICS Konferenz auch die Jahreskonferenz der Japanischen Gesellschaft für Institutionelle Ökonomie abgehalten wurde (leider nur in japanisch). Zum anderen war diese Entwicklung aber auch dem Umstand zurückzuführen, dass wieder mehr und mehr Aufmerksamkeit solchen Währungen zukommt, die dezidiert wirtschaftliche Notstände und freie Potentiale ansprechen. Neben vielen Arbeiten zu den mittlerweile schon als “traditionell” geltenden Regiogeldern in Frankreich (Eusko, SoNantes) oder Deutschland (Chiemgauer), waren es somit vor allem die Währungen von Grassroot Economics (gegründet von Will Ruddick) in Kenya, zu denen besonders viele wissenschaftliche Arbeiten vorgestellt wurden. Dies liegt auch daran, dass die dort generierten Daten aufgrund der offen gelegten Blockchain sehr viele Auswertungsmöglichkeiten für Forscher*innen bieten.

Schließlich fand sich dies, und der Titel der Konferenz “Going Digital? New Possibilities of Digital-Community Currency Systems” auch in der Wahl des besten wissenschaftlichen Beitrages wieder (Best Paper Award), dem die Jury an Dr. Fabienne Pinos aus Frankreich für ihre Studie mit dem Titel “How could blockchain be a key resource in the value creation process of a local currency? A case study centered on Eusko.” verlieh. Generell waren die Stimmen jedoch sowohl in den Vorträgen, als auch in den Pausen, dieses Jahr viel verhaltener, wenn es um die Erwartungen an Bitcoin, Blockchain, Libra und Co. ging. Eine weitere Sache, in der die meisten Beiträge leider auch immer noch viel zu verhalten waren, betrifft ein zentrales Anliegen von MONNETA: eine angemessene Terminologie, klare Begriffe und Wortwahl zu finden, die Aufklärung und Weiterentwicklung in Geld- und Währungsfragen befördert. Dabei muss es gerade für einen kritischen Beobachter bemerkenswert sein festzustellen, dass selbst Wissenschaftler die Begriffe Geld und Währung noch immer fast synonym gebrauchen – und damit in der Differenzierung und Beschreibung ihres Forschungsgebietes vage bleiben müssen. Aus dem MONNETA Netzwerk sind dazu sowohl auf der Konferenz, als auch an anderer Stelle, kohärente Vorschläge gemacht worden.

Ähnlich wie in der Vergangenheit war der zweite Teil der Konferenz, der vor allem den Währungsgruppen und Praktizierenden gewidmet war, gut besucht. Die internationalen und japanischen Vorträge und Workshops, sowie ein kleine Messe auf der sowohl lokale Gruppen als auch ambitionierte Technologie-Anbieter ausstellten, boten attraktive Anziehungspunkte für Experten und Besucher. Ein weiteres Highlight war das Programm für die internationalen Besucher mit einem vielfältigen kulturellen Angebot und einem wunderschönen natürlichen Umland am Fuße der japanischen Alpen. Auf einer Abendveranstaltung für die Konferenzteilnehmer wurde die Gastfreundlichkeit und künstlerische Vielfalt mit sich wechselseitig überbietenden Darbietungen präsentiert. Die gesamte lokale Prominenz an Unternehmern, Kommunalpolitikern schien versammelt und die beiden Bürgermeister der Städte Takayama und Hida verkündeten ihre verstärkte Unterstützung für die Währungsinitiativen, weil sie erkannt haben, dass in der regionalen Vermarktung und auch im Tourismus noch viel Potenzial für die Region steckt. Die Reden machten deutlich, dass die Einbettung der lokalen Währungen in den kollektiven Gesamtzusammenhang sehr viel tiefer ist als in den meisten anderen Regionen. Der Zusammenklang von regionalen Institutionen wie den Städten und Umlandgemeinden, der regionalen Kreditgenossenschaft, von Kindergärten, Schulen und sozialen Einrichtungen, den Einzelhandelsverbänden und von bedeutenden regionalen Unternehmen wie zum Beispiel einer mittelständischen Möbelfabrik, die heimisches Holz zu hochwertigen Designer-Möbeln verarbeitet, zeigt, wie in einem harten Globalisierungswettbewerb der soziale Zusammenhalt in einer Region funktionieren kann. Komplementäre Währungen wirken dabei zunehmend als selbstverständlicher Baustein der regionalen Entwicklung und der Partizipation begriffen.

Bei jeder wenigen Gelegenheiten des Shoppens und Essengehens fielen einem an allen Ecken der Stadt die Plakate zur Konferenz auf. Meterhohe Fahnen am Bahnhof und tausende Plakate an den Geschäften bekräftigen den Willen der regionalen Gemeinschaft, die Gäste nicht nur willkommen zu heißen, sondern auch an der eigenen Region im Verbund mit Wirtschaft, Politik und Wissenschaft aktiv mitzuwirken. Im Hinblick auf eine “transdisziplinäre Wissenschaft” gibt der Einblick in das kunterbunte Währungslabor in Japan viele Impulse für die weitere wissenschaftliche und praktische Arbeit in Europa.

Es bleibt zu hoffen, dass bei der nächsten Konferenz, die 2021 in Sofia (Bulgarien) stattfinden wird, ebenso viel Unterstützung und gegenseitige Inspiration zwischen Wissenschaft, Praxis und dem weiteren Umfeld erlebbar sein wird.

 

 

Am 10. August ist unser Freund und langjähriger Arbeitskollege Otmar Donnenberg im Alter von 79 Jahren gestorben. Darüber sind wir noch so erschrocken, dass wir den Nachruf in Form eines Briefes geschrieben haben, den wir ihm gerne noch hätten zukommen lassen.

 

Lieber Otmar,

Du fehlst. Nicht nur unserem Freundeskreis bei MONNETA, nicht nur Deiner Familie, Deinen Freunden und vielen Weggefährten durch Dein bewegtes Leben. Nein, Menschen wie Dich findet man selten. Diese Kombination aus einem engagierten Lehrer, Unternehmer, Berater und Sozialreformer waren ziemlich einzigartig. Ebenso wie Dein zielgenauer Blick für das Wesentliche, der uns so häufig zu dem zurückgeführt hat, was wir Menschen wirklich brauchen.

Du hast so viel geleistet in Deinem Leben z.B.:

  • für die Organisationsentwicklung, die eine neue Methode war, als Du damit anfingst,
  • für die maßgebliche Weiterentwicklung des Action-Learning, die in Deinem Buch nachgelesen werden kann,
  • für Gemeinschaften und Menschen, die Du als Coach betreut hast,
  • für Gruppen, denen Du als Mediator und Moderator geholfen hast ihre Potentiale besser zu entfalten
  • für die Nutzung der Soziokratie auch in Unternehmen,
  • für ein ethisches Banking, z.B. bei der Triodos-Bank in den Niederlanden, die Du mitgegründet hast,
  • für Lernstrategien der Veränderung z.B. bei der Transition-Bewegung, der Regionalentwicklung und der Gemeinwohl-Ökonomie

Diese Aufzählung ließe sich noch um einiges verlängern.

Menschlich überaus beeindruckend waren darüber hinaus Dein mutiger, tapferer und bewusster Umgang mit Krankheit und Tod. Seit 2008 wusstest Du von Deiner Knochenmarkserkrankung. Du hast die Leukämie mit Hilfe Deiner Frau so viele Jahre gut in Schach gehalten. So gut, dass wir noch im Juni dachten: Jetzt ist Otmar endlich über den Berg! Dann aber kam eine Infektion, die sich hartnäckig ausgebreitet hat, genauso wie die weißen Blutkörperchen. Letztendlich hat Deine bewusste Entscheidung auf weitere Behandlung zu verzichten und nach Hause zu gehen, sogar die behandelnde Ärztin zum Weinen gebracht.

Geschöpft hast Du Deine Kraft aus einer tiefen Spiritualität, die Dich z.B. immer wieder nach Dornach geführt hat. Dort hast Du den Faust von Goethe in voller Länge erlebt und ebenso die Mysteriendramen von Steiner. Für Dich waren das nicht nur Schauspiele, sondern ständige lebendige Quellen für Ideen und Inspirationen. Die Begegnung mit Bernard Lievegoed hat Dich zu Deinem Lebensthema geführt, zur „Kultivierung der Herzen“, das Du auch an vielen beruflichen Stationen praktizieren konntest. Auf gesellschaftlicher Ebene gab es für Dich ebenfalls einen Ansatz der Kultivierung durch eine Dreigliederung von Gesellschaft und Unternehmen. Das Kulturleben sollte nach Deiner Auffassung durch das Prinzip der Freiheit geprägt sein, das Rechtsleben durch das Prinzip der Gleichheit und das Wirtschaftsleben durch das Prinzip der Geschwisterlichkeit. Gewehrt hast Du Dich dagegen, Schulen und Bildung dem Gleichheitsprinzip des Staates zu unterwerfen, ebenso warst Du dagegen Wirtschaft als puren globalen und freien Wettbewerb zu gestalten, da dieses Übermaß an Freiheit im Wirtschaftsleben zur Übermacht der Konzerne und zur Monopolisierung führen würde.

Dein Mut und starker Wille Dinge zu Ende zu denken, führten auch zu der Erkenntnis, welche umfassende Bedeutung das Geldwesen, die Finanzwirtschaft und Währungssysteme für unsere Gesellschaft, unser Denken und unsere Kommunikation haben. Du wusstest wie viel man erreichen kann, wenn man dort ansetzt und zum Beispiel mit Komplementärwährungen und mit praktischen neuen Handlungsmöglichkeiten auch das Bewusstsein der Menschen verändert. Ja, Geld ist ein Tauschmittel und gesellschaftliches Gestaltungsmittel, das wir mitgestalten sollten. Deshalb hast Du Dich für Regionalwährungen, Zeit-Tausch-Systeme und Verbesserung der lokalen Netzwerke eingesetzt. Und um etwas gegen die zunehmende Ungleichheit und für eine gerechtere Verteilung zu tun. Es gab Rückschläge z.B. bei der Regionalwährung „Dreyecker“, die Du mitgegründet hast. Dennoch hat das Deinen grundsätzlichen Optimismus nicht erschüttert. Du hast dem Kritiker der Wachstumswirtschaft Tim Jackson zugestimmt, der sagte „Pessimismus ist ein Akt des Verstandes, Optimismus ein Akt des Willens. Wir gewinnen nicht durch Pessimismus, sondern durch eine optimistische Haltung.“ In diesem Sinne sehen wir Dich als einen willensstarken Optimisten, der bis zuletzt voller Elan dabei war, Regiogeld-Initiativen miteinander zu vernetzen und das kooperative Denken anzuregen. Die Themen, für die Du Dich engagiert hast, wollen wir in diesem Sinne weiter voranbringen.

Wir danken Dir aus tiefen Herzen für all das Gute, das Du für uns getan hast!

Kathrin Latsch und Christian Gelleri